Schwarze Pädagogik

Der geübte Zeitungsleser kennt das Missverhältnis von Nachrichten und Reportagen. Erstere sind meist so kurz, dass man sie wegen fehlender Hintergrundinformationen kaum verstehen kann, letztere wollen möglichst anschaulich schildern, was das für die Einzelnen bedeutet, wovon zuvor zu knapp berichtet wurde, ergießen sich über Seiten, verlieren sich in nebensächlichen Beschreibungen, sodass der Leser sie irgendwann gelangweilt und zugleich verärgert beiseite legt, weil ihr Informationsgehalt nicht über das hinausgeht, was sich auch in wenigen Zeilen hätte zusammenfassen lassen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Artikel „Ausgespart“ von Mark Schieritz und Wolfgang Uchatius über Sinn und Unsinn des Sparens heute im Dossier der Zeit vom 13.11.2014. Eine durchaus beachtenswerte und nette Beschreibung findet sich aber auch dort gleich zu Beginn:

„Finn ist neun Jahre alt, er geht in die vierte Klasse und bekommt zwei Euro Taschengeld pro Woche. Er könnte sich dafür Eis oder Modellautos kaufen, aber Finn legt das Geld lieber in eine Pappschachtel, die auf dem Sekretär seiner Mutter steht. Finn spart. Manchmal fegt er die Küche oder hilft seinem Großvater beim Heckenschneiden. So verdient er sich etwas dazu. Neulich hat er zwei wuchernde Weidenbüsche abgesägt. Da hat ihm der Großvater ein paar Euro geschenkt. Die Pappschachtel wurde wieder ein wenig voller. Finn sagt: ‚ Ich spare für den Führerschein.’“ (Die Zeit Nr. 47 vom 13.11.2014, S. 13)

Was für ein prächtiger Analcharakter, möchte man da ausrufen und Eltern und Großeltern beglückwünschen, dass sie es geschafft haben, das Kind derart aufs Sparen zu trimmen. Einfach vorbildlich! Dem Jungen haben sie die Flausen erfolgreich ausgetrieben. Da wird kein Cent verschwendet, kein Eis geschleckt, mit keinem Auto gespielt. Mit neun Jahren weiß er schon, dass das Hier und Jetzt nichts gilt, dass Genuß und Freude am Leben zurückzustehen haben gegenüber der Vorsorge für später – wann immer das sein soll. Und natürlich darf Geld nicht einfach verprasst, sondern muss für etwas Nützliches ausgegeben werden, z.B. für einen Führerschein. Nur leider ist die so gelungene Erziehung nicht mehr zeitgemäß. Das Sparen bringt nichts, jedenfalls keine Zinsen. Wenn Finn endlich alt genug sein wird, seinen Führerschein auch machen zu dürfen, wird ihm die Inflation einen schönen Batzen des mühsam Ersparten weggefressen haben.

Es ist das alte Problem mit dem Wertewandel. Eine Generation erzieht ihre Kinder nach ihren Werten, aber die haben, wenn die Kinder groß sind, ihre Bedeutung verloren. Das Sparen ist so ein Wert. Er gehört einer Zeit an, als die Welt noch in Ordnung, d.h. der Klassenunterschied noch das Verhalten prägte. Was die sogenannten Arbeitnehmer mehr verdienten als sie unmittelbar zum Lebensunterhalt brauchten, liehen sie der Bank gegen Zinsen und die verlieh es gegen höhere Zinsen weiter an Unternehmer, die einen Kredit brauchten. Die einen sparten, um etwas für schlechte Zeiten zu haben oder sich irgendwann ihr Eigenheim zu leisten zu können, die anderen wussten, dass man im Kapitalismus nicht vom Sparen, sondern vom Ausgeben des Geldes in Form von Investitionen reich wird. Die Ersparnisse der einen verwandelten sich ins Kapital der anderen, die die dazu nutzten den Sparenden den Mehrwert auszupressen, der sie reich machte und von dem sie ihre Kreditzinsen bezahlten, von denen die Bank einen winzigen Bruchteil dann wieder an die Sparer durchreichte.

Inzwischen ist jedoch viel zu viel Geld unterwegs, das gar nicht mehr in produktives Kapital zurückverwandelt werden kann und die Unternehmen haben selbst zuviel davon auf der hohen Kante liegen, von dem sie nicht wissen, wie sie es gewinnbringend investieren sollen. Sie brauchen keine Kredite und die Banken deshalb keine Ersparnisse. Also zahlen sie kaum noch Zinsen. Im Gegenteil, demnächst wird man noch die Bank dafür bezahlen müssen, wenn man sein Geld bei ihr deponieren will. Mit der Altersvorsorge ist es auch nicht mehr weit her. Erst hat man die staatlich garantierte Rente immens gekürzt und die Leute mehr oder weniger gezwungen, sich auf eine private Absicherung einzulassen, und jetzt haben sie alle Lebensversicherungen, die die Versicherer gar nicht mehr angemessen verzinsen können.

Wir werden nun alle umerzogen, besser gesagt umsozialisiert. Objektiv bestehen die Klassenunterschiede weiter, die einen verfügen über Kapital, mit dem sie die anderen ausbeuten, die anderen nur über ihre Arbeitskraft, die sie ausbeuten lassen müssen. Aber subjektiv, im Verhalten ähneln wir uns an. Wir werden alle Unternehmer. Die niedrige Verzinsung treibt auch die, die ihr Geld nur sparen wollen, an die Börse. Sie werden Aktienbesitzer und damit Teilhaber am in Privatunternehmen zersplitterten gesellschaftlichen Kapital. Als Miniaktionäre haben sie keinerlei Einfluß auf Unternehmensentscheidungen, keinen Zugang zu wichtigen Informationen und werden in noch weit höherem Maße zum Spielball von unbeherrschbaren Markbewegungen als es die Großaktionäre schon sind. Aber sie lernen auf diese Weise wie Kapitalisten zu denken und sich wie Marktteilnehmer zu verhalten, auch wenn dieser Lernprozess für sie eher schmerzhaft sein dürfte. Das Resultat dieser neuen schwarzen Pädagogik wird eine noch festere Bindung ans Kapital sein und eine Gesellschaft nach dem Modell einer Aktionärsversammlung.

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