Lasst uns das Patentrecht schleifen!

Karl Marx stellte einst in seinem berühmten Maschinenfragment in den Grundrissen zu einer Kritik der politischen Ökonomie fest, dass die große Industrie, weil sie auf der Verwissenschaftlichung der Produktion beruhe, den „generell intellect“, insbesondere das gesellschaftliche Naturverständnis, als entscheidende menschliche Produktivkraft enthülle.1 Die Pandemie enthüllt auch dem rein pragmatischen Alltagsverstand nun den Patentschutz als ein wesentliches, aber völlig überflüssiges, politisch gewolltes, rechtliches Hindernis des Gebrauchs dieser Produktivkraft. Jeder und jedem ist klar, dass eine Pandemie nur weltweit bekämpft werden kann, dass auch denjenigen, die nun – dank der Wissenschaft – über die Kenntnisse zur Impfstoffherstellung verfügen, es nicht wirklich nützt, wenn die nicht weitergegeben werden, damit auch in den ärmeren Ländern des globalen Südens endlich Impfkampagnen von nennenswertem Ausmaß in Gang kommen. Denn lässt man dort Corona weiter wüten, wird es immer wieder zurückkommen, und zwar mit immer gefährlicheren Mutationen, gegen die dann auch die hiesigen Impfungen nicht schützen. Der Versuch aus einem eigenen Wissensvorsprung einen Vorteil zu schlagen, ist so unmenschlich wie dumm. Die Anwendung des Wissens zu limitieren, bedeutet nur, dass viele anderswo – jetzt gerade in Indien – unnötig sterben müssen und dass alle – auch die Geimpften hier – weiter der Gefahr ausgesetzt werden zu erkranken. Dem Ziel, das Virus mittels Herstellung von Herdenimmunität auszurotten oder wenigstens weitgehend seine Verbreitung einzudämmen, wird man nur durch unbeschränkte Verbreitung des Wissens näher kommen. Das Patentrecht dagegen hält das Virus am Leben.

Südafrika und Indien haben deshalb bereits im Oktober 2020 einen Antrag bei der WTO eingereicht, den Patentschutz für die Impfstoffe temporär auszusetzen. So soll die Produktion ausgeweitet und lokale Unternehmen in die Lage versetzt werden, sie vor Ort zu bezahlbaren Preisen herzustellen. Etwa 100 der 165 WTO-Mitgliedsstaaten schlossen sich inzwischen diesem Antrag an. Vor allem die reichen und mächtigen Industriestaaten lehnten ihn allerdings sofort reflexhaft ab. Anfang Mai gab nun die US-Regierung unter Joe Biden bekannt, dass sie aus dieser Phalanx ausscheren und ebenfalls den Antrag Südafrikas und Indiens unterstützen will. Das ist nun wirklich eine „historische Entscheidung“, wie der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanon Ghebreyesus jubelte.2 Die Schutzmacht des Kapitalismus und Sitz der mächtigsten Pharmaindustrie gibt – wahrscheinlich das erste Mal in der Geschichte – ihre Zustimmung, den Patentschutz auszusetzen.

Diese historische Entscheidung der US-Administration löste allerdings bei vielen ihrer Partner in der EU nicht die gleiche Begeisterung aus wie bei den Vertretern der UN. Denn die Wende in der US-Politik bringt insbesondere Kanzlerin Merkel, die weiterhin jede Patentfreigabe kategorisch ablehnt, in Rechtfertigungsnot. Der Druck hat sich merklich erhöht und die Diskussion über den Antrag Südafrikas und Indiens lässt sich nicht länger unter den Teppich kehren. Seitdem werden Vertreter aus Politik, Wirtschaft und einflussreicher Medien3 nimmer müde, dem einfachen Volk beizubringen, nicht zu glauben, was auf der Hand zu liegen scheine. Das Gegenteil sei vielmehr richtig: Der Schutz des geistigen Eigentums sei nicht nur kein Hindernis bei der Bewältigung der Pandemie, sondern gerade dieses Rechtsinstitut habe für die schnelle Impfstoffentwicklung gesorgt, die es ermöglicht, sie effektiv zu bekämpfen.

So betont Ursula von der Leyen schon wenige Tage nach der Erklärung der US-Regierung auf dem EU-Gipfel in Porto, dass es kurz- und mittelfristig für die globale Versorgung mit Impfstoff viel wichtiger sei, dass alle Vakzine produzierenden Länder den Export von Grund- und Impfstoffen erlaubten und sicherstellten, dass die Lieferketten nicht unterbrochen würden.4 Sie macht mit dieser Spitze gegen die US-Administration, die immer noch an dem entsprechenden von Trump verhängten Exportverbot festhält, offen ihrer Verärgerung über deren Votum für eine Patentfreigabe Luft. Der deutsche Gesundheitsminister assistiert sogleich der EU-Kommissionspräsidentin, indem er in der Bundespressekonferenz verkündet, dass die Frage der Patente nicht das Hauptthema sei, sondern die der Produktionskapazitäten.5 Und selbst Entwicklungsminister Müller, der schon qua Amt verpflichtet ist, sich für die Belange der ärmeren Länder einzusetzen und das in der Vergangenheit auch in einem erstaunlichen Maße tat, lehnt in einem Spiegel-Interview eine Patentfreigabe ab: „Wenn wir allein durch die Patentfreigabe schneller zum Ziel kommen würden, Impfstoffe für alle zu produzieren, wäre ich dafür. Aber das ist derzeit nicht der Fall. Denn das Patent allein reicht nicht. Man muss auch wissen, wie produziert werden soll. Deshalb sollten aus meiner Sicht dringend mehr gezielte Lizenzproduktionen und ein Technologietransfer stattfinden.“6

All das ist zweifellos richtig. Tatsächlich ist es ein Skandal, wenn einige Staaten, den Export von Grundstoffen behindern und Impfstoffe horten, die anderswo dringend gebraucht würden. Tatsächlich nutzt auch die bloße Freigabe einzelner Patente wenig. Denn zum einem beruhen die „Rezepte“, die von ihnen geschützt werden, wieder auf Erkenntnissen, die ihrerseits patentiert sind, usw. usf. Am Ende dieser Kette steht zumeist an Universitäten geleistete Grundlagenforschung. Mit der Parzellierung des Wissens, das gerade das Patentrecht erlaubt und zur Folge hat, schützen sich große Pharmaunternehmen vor angeblichem Missbrauch des von ihnen im wahrsten Sinne des Wortes erworbenen Wissens. Wer nur einen Teil dieses Wissens nutzen darf, wird auch mit diesem Teil nicht viel anzufangen wissen. Zum anderen kommt es derzeit auch tatsächlich darauf an, Produktionskapazitäten aufzubauen, am besten vor Ort, wo die Vakzine dann auch gebraucht werden. Und selbst, wenn man dort über alle wissenschaftlichen Erkenntnisse verfügte, würde das noch nicht ausreichen. Es bedürfte auch des von Müller hervorgehobenen Technologietransfers.

Was aber wäre die logische Schlussfolgerung aus all diesen tiefschürfenden Einsichten? Doch wohl die, dass man das eine tun muss und das andere nicht lassen darf. Mitnichten aber eine Ablehnung der Patentfreigabe, sondern vielmehr eine Ausweitung des Wissenstransfers und technischer Unterstützung. Schließlich bildet das patentierte Impfstoffwissen das zentrale Element des Zusammenhanges, in dem es seinerseits nur erfassbar und dann auch nutzbar wird. Wenn es also dazu der Aufhebung weiterer Patente, oder gar des Patentrechtes als solchen bedarf, muss man die Freigabe eben ausweiten. Und wenn auch das nicht reicht und es zu seiner praktischen Umsetzung einen Technologietransfer braucht, dann muss eben auch der stattfinden. Und würden so Produktionskapazitäten vor Ort aufgebaut, wäre man dort auch nicht länger vom Import und vom Gutdünken anderer Staaten oder von Unternehmen abhängig, die nur an zahlungskräftiger Nachfrage interessiert sind. Das Festhalten an den Patenten dient hingegen, selbst wenn eine an sie gebundene Lizenzvergabe stattfindet, einzig und allein dazu, neu entstehende Produktionen unter der Fuchtel der lizenzierenden Unternehmen zu halten.

Statt sich aber dem Vorstoß der USA partnerschaftlich anzuschließen, gibt die Bundeskanzlerin lieber ein Glaubensbekenntnis zum Patentschutz ab. Denn schließlich dürfe „die Innovationskraft derer, die heute Impfstoff herstellen, nicht erlahmen.“7 Nun ist es aber bekanntlich mit der Innovationskraft der großen Pharmaunternehmen, die sich jetzt dank ihrer Teilhabe an Patenten und ihrer Verfügung über geeignete Produktionsstätten eine goldene Nase verdienen, nicht sehr weit her. An einer Impfstoffentwicklung gegen die schon vor Jahren aufgetretenen Coronaviren Sars-Corv-I und Mers, die bei der Bekämpfung der jetzigen Pandemie extrem hilfreich hätten sein können, zeigte sich die Pharmaindustrie nicht sonderlich interessiert. Die beiden früheren Epidemien forderten zu wenige Opfer und betrafen eine nicht besonders zahlungsfähige Kundschaft. Das rechnete sich nicht, also unterblieb sie.8 Ganz grundsätzlich und so auch bei Sars-Corv-2 überlassen die Pharmaunternehmen auch die eigentliche Forschung und Entwicklung inzwischen gerne entweder öffentlich geförderten Einrichtungen wie der Universität Oxford im Fall von Astrazeneca, oder wie im Fall von Pfizer sogenannten Startups wie BioNTech, deren Forschung ebenfalls zu einem wesentlichen Teil von der öffentlichen Hand finanziert wurde. So ersparen sie sich die Unkosten der in der Forschung unvermeidlichen Fehlschläge. Sie warten lieber ab, bis eine Entwicklung zu einer erfolgversprechenden Reife gelangt ist und kaufen sich dann ein oder die Startups gleich ganz auf.9

In seiner lesenswerten Studie „Pillen und Patente. Geistiges Eigentum im deutschen Kapitalismus am Beispiel der Pharmabranche“ erklärt Robert Bernsee, dass Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts in den Konzernzentralen der deutschen Pharmaunternehmen zudem ein Strategiewechsel vollzogen wurde. Patente werden seitdem nicht mehr vorrangig als Nutzungs-, sondern vor allem als Abwehrrechte genutzt. „Mit anderen Worten galten Patentanmeldungen unternehmensintern als Instrument, um den Wettbewerb zum eigenen Nutzen zu beeinflussen – je mehr Patente für einen bestimmten Bereich gehalten wurden, desto eher waren Mitbewerber bereit zu verhandeln oder gaben ihre Forschung in diesem Bereich auf.“10  Dass der Patentschutz die Innovation fördere, gehört also schlicht ins Märchenbuch. Weder war je das menschliche Erkenntnisinteresse untrennbar an seine Profitabilität geknüpft, noch ist letzteres ersterem förderlich. Vielmehr wird selbst unter kapitalistischen Bedingungen die sogenannte Innovation durch die Monopolisierung des Wissens, die das Patentrecht ermöglicht, erstickt.

Der eigentliche Beitrag der Pharmaindustrie zu Forschung und Entwicklung besteht denn auch eher in der Durchführung jener Studien, die zur arzneimittelrechtlichen Zulassung von Wirkstoffen erforderlich sind. Die sind aufwendig und teuer. Und so begründen die Pharmaunternehmen die „Mondpreise“, die sie häufig verlangen, nicht nur mit den notwendigen Investitionen für den Ankauf von Startups und Patenten, sondern auch mit eigenen Entwicklungskosten. Da kommen, glaubt man ihren Verlautbarungen, schon an die 2,5 Milliarden für ein Medikament zusammen. Weniger interessierte Veröffentlichungen sprechen hingegen von durchschnittlich 150 Millionen.11 Vielleicht ergibt sich ja die Differenz daraus, dass die Pharmariesen ihre Werbeausgaben mit einrechnen. Wie eine andere Studie schon vor einigen Jahren belegte, liegen die nämlich knapp das Doppelte über den Ausgaben für Forschung und Entwicklung.12 Dabei darf man natürlich nicht nur auf den Posten Werbekosten in den Bilanzen schauen, sondern muss alle sogenannten „verkaufsfördernden Maßnahmen“ einbeziehen, unter die all das fällt, was für Lobbyarbeit und Bestechung von Ärzten ausgegeben wird. Denn, wenn die Pharmakonzerne, wie so oft, mal wieder ein Medikament auf dem Markt platzieren wollen, das keine nennenswerte Verbesserung gegenüber bereits vorhandenen darstellt, mit dem man aber den Patentschutz erneuern kann, um Monopolpreise aufrecht zu erhalten, dann bedarf es einer Überzeugungsarbeit der anderen Art.

Im Fall der Impfstoffentwicklung gegen Sars-Corv-II entfallen allerdings diese Kosten. Schließlich übernimmt die Werbung schon die öffentliche Hand mit ihren Impfkampagnen. Auch dürften die Investitionen in die klinischen Studien durch die Vorverträge, die mit den Staaten abgeschlossen wurden, längst abgedeckt sein. Davon kann man zumindest ausgehen, auch wenn auch diese Verträge insofern vom Patentrecht eingeschlossen scheinen, als die Öffentlichkeit von den Abmachungen, die ihre Vertreter mit den Firmen trafen, nur so viel erfahren darf, als diese zulassen. Der Markt für Pharmazeutica ist schon ein ganz besonderer Markt, nicht einmal ihre Preise werden genannt. So lässt sich für die beteiligten Pharmaunternehmen festhalten: Sie säen nicht, aber sie ernten dafür umso kräftiger. So gut wie die gesamte Impfstoffentwicklung wurde aus öffentlichen Mitteln finanziert, das berühmte „unternehmerische Risiko“ lag nahe Null – und trotzdem verdienen sie sich nicht nur dumm und dämlich damit, sondern, was viel schlimmer ist: In den Konzernzentralen wird so auch über den Zugang zum Impfstoff entschieden. In den Vorstandsetagen sitzen die Herren über Leben und Tod.

Und die politischen Vertreter in der EU, allen voran die deutschen, stützen weiter das Privat- und Profitinteresse statt das öffentliche an einem möglichst schnellen und umfassenden Ausbau der Impfstoffproduktion. Mit dem vielbeschworenen Pragmatismus, den sie sich so gerne auf die Fahnen schreiben, hat das offenbar nichts zu tun. Von Pragmatismus zeugt vielmehr der Antrag Südafrikas und Indiens und die Haltung der US-Regierung, die ihn unterstützt. Denn dieser Antrag nimmt Bezug auf eine Klausel, die noch jedes Patentrecht dieser Erde enthält, so auch das internationale Abkommen über geistiges Eigentum, TRIPS genannt, das die WTO überwacht. Sinngemäß besagt diese Klausel, dass in Fällen von übergeordnetem allgemeinen Interesse der Patentschutz durchaus ausgesetzt werden kann. Genannt werden in diesem Zusammenhang stets ausdrücklich Gesundheitskrisen. Wenn aber diese Pandemie nicht ein solcher Ausnahmefall ist, der die Patentfreigabe nicht nur erlaubt, sondern nachgerade erzwingt, so fragt man sich, wozu es dann überhaupt solche Klauseln gibt.

Erklären lässt sich die ganz und gar inhumane Sturheit der EU nur mit der Angst, einen Präzedenzfall zu schaffen. Der Präsident des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller (VFA) Han Steutel benennt sie gegenüber dem Handelsblatt: „Corona soll instrumentalisiert werden, um den Patentschutz für Impfstoffe zu schleifen.“13 „Richtig!“, möchte man antworten, „darum geht es“. Aber selbst wenn die Wirtschaftsvertreter der Sache nahe kommen, bleiben sie ihrem immer tendenziösen Denken so verhaftet, dass sie sie nur verzerrt erfassen. Weil sie alles und jedes instrumentalisieren, unterstellen sie das auch allen anderen. Und weil sie so borniert sind, greifen sie dabei auch noch zu kurz. Corona muss nicht instrumentalisiert werden. Die Pandemie zeigt von selbst, dass es nicht nur den Patentschutz für Impfstoffe zu schleifen gilt, sondern das gesamte Patentrecht und überhaupt jedes Recht an geistigem Eigentum.

Denn Wissen ist kein mögliches Eigentum. Es ist allgemein, sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Betrachtung. Wissen besteht in der Erkenntnis der Zusammenhänge der Dinge. Es entsteht in einem kollektiven Prozess und lässt sich nicht teilen. Deshalb gehört auch keinem noch so genialen Erfinder oder Entdecker seine Erfindung oder Entdeckung. Das Wissen des einen baut vielmehr auf dem eines anderen auf. Sonst bräuchte es keine Schulen und Universitäten. Dort wird schließlich der nachwachsenden Generation vermittelt, was ihre Vorgänger erkannt und sich mühsam erarbeitet haben, auf dass sie selbst das Rad nicht neu erfinden müssen. Tycho Brahe hat sein gesamtes Leben der Beobachtung der Planeten gewidmet und ihre Positionen akribisch notiert. Sein Schüler Johannes Kepler hat auf dieser Grundlage herausgefunden, dass sie sich auf Ellipsenbahnen bewegen und ihre Bewegungsgesetze formuliert. Die lernen heute Schüler und Schülerinnen im Physikunterricht in 2 Stunden. Der Modus des wissenschaftlichen Fortschritts ist der wie jedweden Fortschritts die menschliche Kooperation, nicht die Konkurrenz. Geheimhaltung, Abschottung, Parzellierung des Wissens töten es ab, nehmen ihm seinen lebendigen Zusammenhang, aus dem heraus sich weitere Erkenntnisse ergeben, und verwandeln es in Information.

Auch ist Wissen kein knappes Gut. Wenn es in Indien oder Südafrika genutzt wird, entweder neues Wissen zu generieren oder es praktisch anzuwenden, um dort Impfstoffe für die Bevölkerung zu produzieren, so hindert das niemanden in Europa daran, ähnliches oder ganz anderes mit demselben Wissen zu tun. Nur wer es allein unter dem ihm völlig fremden Aspekt seiner Verwertung betrachtet, verfällt der Sorge, es würde nicht mehr geforscht, wenn sich das nicht in Heller und Cent auszahle. Es ist deshalb grob irreführend, wenn ständig hervorgehoben wird, aus der Kanzlerin spreche die promovierte Physikerin. Ihre Sorge betrifft das kapitalistische Geschäftsmodell, nicht das Wissen.

Die ist allerdings berechtigt. Robert Bernsee stellt nämlich in seiner bereits erwähnten Studie auch fest, dass die Investitionen der Pharmaindustrie in Patente seit den 70er Jahren stark angestiegen sind, dass mithin der Wertanteil dieser geistigen Produktionsmittel, wie er das patentierte Wissen treffend nennt, im Verhältnis zu den materiellen Produktionsmitteln deutlich gewachsen ist. Den Angriff auf den Patentschutz muss die Pharmaindustrie und jedes andere technisch fortgeschrittene Kapital, das zu immer größeren Teilen aus solchen immateriellen Produktionsmitteln besteht, als Versuch seiner Entwertung und schließlich seiner Sozialisierung sehen. Und das ist genau die Chance, die diese Pandemie bietet. Sie macht die Absurdität geistigen Eigentums für jedermann und jedefrau sichtbar, macht seine Existenz zum Skandal, weil die juristischen Beschränkungen, die es allen auferlegt, unmittelbar Menschenleben kosten. Weil aber ohne die pingelige Geheimniskrämerei, die in Wirtschaft und Staaten betrieben wird, sich auch das Eigentum an den materiellen Produktionsmitteln nicht mehr aufrecht erhalten ließe, weil sich damit allein kein Kapital mehr verwerten kann, kann die Patentfreigabe für die Impfstoffe zu einem Hebel einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung werden.

Der vielleicht etwas unüberlegte Vorstoß der USA bringt das Kapital in die Defensive. Die Zugeständnisse, die die Impfstoffhersteller zuletzt auf dem G20-Gipfel machen mussten, zeugen davon. Diese Gelegenheit darf die gesellschaftliche Linke nicht wieder verschlafen. Der Kampf um die Patente hat begonnen, er muss als Kampf um eine neue, vernünftiger einzurichtende Gesellschaft geführt werden. Jetzt heißt es deshalb zu insistieren, sich nicht wieder mit Almosen wie billigen Lizenzvergaben abspeisen zu lassen, zuerst die Impfstoffpatente und dann das ganze geistige Eigentumsrecht zu schleifen, um schließlich alle, immaterielle wie materielle Produktionsmittel zu vergesellschaften.

1Vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx Engels Werke (MEW), Band 42, Berlin 1983, S. 601.
2Vgl. UN für Aussetzung des Patentschutzes von Corvid-Impfstoff, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.21, S. 1.
3Allein die FAZ veröffentlichte in der ersten Woche nach der US-Entscheidung mindestens 17 Artikel zum Thema. Alle haben Sie den gleichen Tenor, den Patentschutz zu rechtfertigen.
4Vgl. Werner Mussler: EU stellt sich gegen Bidens Impf-Idee, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.05.21, S.17.
5Vgl. https://www.dw.com/de/eu-und-merkel-gegen-freigabe-von-patenten-zu-corona-impfstoff/a-57473111 (Stand: 25.05.21)
6https://www.spiegel.de/ausland/patentfreigabe-der-impfstoffe-bundesentwicklungsminister-gerd-mueller-spricht-sich-dagegen-aus-a-a0cb1d1a-d34f-42eb-adfe-cf482bd9d3df (Stand: 25.05.21)
7Vgl. ebd., FAZ, 10.05.21, S. 17.
8Vgl. https://taz.de/Bayer-Konzern-stellte-Forschung-ein/!5678688/ (Stand 31.05.2021)
9Vgl. https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2021/Corona-Wem-gehoert-der-Impfstoff,coronaimpfstoff114.html (Stand 31.05.2021)
10Robert Bernsee: Pillen und Patente. Geistiges Eigentum im deutschen Kapitalismus am Beispiel der Pharmabranche, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2020/5859, (Stand 30.052021)
11Vgl. https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/forschung-und-entwicklung-kosten (Stand 31.05.2021)
12Vgl. https://www.focus.de/finanzen/news/unternehmen/satte-gewinne-pharmakonzerne-geben-mehr-fuer-werbung-als-fuer-forschung-aus_id_4474123.html (Stand 31.05.2021)
13https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/123671/Coronaimpfstoffe-Bundesregierung-lehnt-Patentfreigabe-ab (Stand 30.05.2021)

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