Was ist Commonismus?

Zur Diskussion: Eine andere Gesellschaft denken

Was ist Commonismus?
Ein Diskussionsbeitrag zu dem Buch von Simon Sutterlütti / Stefan Meretz: Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken, Beiträge zur kritischen Transformationsforschung 5, VSA-Verlag, Hamburg 2018, ISBN 978-3-89965-831-6, 16,80€ (Siehe auch: https://commonism.us/).
Da es sich um einen längeren Beitrag handelt hier auch als PDF: Was_ist_Commonismus.pdf

Kategoriale Utopie
In ihrem Buch „Kapitalismus aufheben“ versuchen Simon Sutterlütti und Stefan Meretz eine, wie sie es nennen, kategoriale Utopie zu entwerfen, eine Utopie, die eine freie Gesellschaft nicht auspinselt, aber wissenschaftlich zu bestimmen können glaubt. Den Ausgangspunkt ihrer kategorialen Utopie bildet die These: „Ich bin nur frei, wenn meine Freiheit auf der Freiheit der anderen aufbaut“ (S. 157). Die Freiheit, die sie meinen, ist die, die eigenen Bedürfnisse zu entfalten und zu befriedigen. Diese individuelle Freiheit käme erst als allgemeine, als gesellschaftliche Freiheit zu sich, nämlich dort, wo es subjektiv sinnvoll sei, die Bedürfnisse der anderen in die eigene Bedürfnisbefriedigung einzubeziehen. „Erst mit dieser gesellschaftlichen Freiheit wird unsere entfaltete Individualität zur Grundlage der Gesellschaft“ (S. 157). Eine solche Gesellschaft nennen sie inklusiv und grenzen sie von den bisherigen exklusiven Gesellschaftsformationen ab, die durch Herrschaftsverhältnisse charakterisiert seien, in denen die Freiheit der anderen als Einschränkung der eigenen erfahren werde, weil die eigene nur auf Kosten der Freiheit der anderen realisiert werden könne.

Der Begriff des Common
Den Autoren zufolge stellt der Commonismus eine inklusive solche Gesellschaftsform dar. Insofern sie damit den Begriff des Common aufnehmen und theoretisch zu entwickeln unternehmen, um den sich derzeit wohl alle relevanten Diskussionen und Beiträge um die Grundlage einer wirklich anderen Gesellschaftsformation drehen, kommt ihrem Buch besondere Bedeutung zu. Was verstehen die Autoren unter Commons? Sie schließen sich zunächst der allgemeinen Definition, die man auf Wikipedia findet, an: „Commons bezeichnen ‚Ressourcen (Code, Wissen, Nahrung, Energiequellen, Wasser, Land, Zeit), die aus selbstorganisierten Prozessen des gemeinsamen bedürfnisorientierten Produzierens, Verwaltens, Pflegens und/oder Nutzens (Commoning) hervorgehen‘“ (S. 156). Diese Definition ist ziemlich umfassend, recht Heterogenes wird zusammengestellt. Gemeinsam ist den verschiedenen Commons offenbar, dass sie als Ressourcen betrachtet werden. Das macht sie jedoch noch nicht zu Commons. Dazu werden sie erst durch die selbstorganisierte, gemeinsame, bedürfnisorientierte Nutzung (hier im weitesten Sinne verstanden). Das heben die Autoren nochmal hervor: „Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass keine Ressource von sich aus ein Commons ist (z.B. Ozeane), sondern Ressourcen und Mittel durch kollektive Verfügung und dabei eingegangene inkludierende Beziehungen – Commoning – zum Commons werden“ (S. 156). Zu Recht nennen die Autoren deshalb die mittelalterliche Allmende, an die die Vorstellung bei der Rede von Commons so gerne anknüpft, nur einen Vorläufer der Commons. Denn ihr Begriff davon geht über eine bloß gemeinsame Nutzung einer gegebenen Ressource hinaus. Schließlich ist die Allmende eine durch eine recht eingeschränkte Gruppe genutzte Ressource und die Selbstorganisation in diesem Fall hierarchisch strukturiert – woraus man lernen kann, dass mit Selbstorganisation noch nicht sehr viel gesagt ist bzw. der Terminus viel zu allgemein ist. Indem die Autoren herausstellen, dass eine Ressource nur durch kollektive Verfügung zu einem Common wird und kollektive Verfügung für sie heißt, dass sich alle Menschen an der Verfügung beteiligen können müssen, oder negativ, dass keiner ausgeschlossen werden darf (Vgl. S. 159), machen sie klar, dass Commons für sie nicht das sind, was bestimmte Gruppen gemeinsam nutzen, sondern was im Sinne der Allgemeinheit, genauer: im Sinne allgemeiner Bedürfnisbefriedigung genutzt wird.

Das Prinzip der kollektiven Verfügung
Daraus ergeben sich Konsequenzen. Ein Stück Land oder auch eine bestimmte Fabrik darauf kann faktisch immer nur von einer bestimmten Anzahl von Menschen zugleich genutzt werden – eben einer Gruppe. Diese Gruppe verfügt jedoch nicht über die Ressource, sondern die gesamte Menschheit. Die Gruppe macht die Ressource erst zu einem Common, indem sie sie gewissermaßen als Repräsentant der Menschheit zum Zweck der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung nutzt. Man kann es auch umgekehrt so ausdrücken: Die Allgemeinheit überlässt einem Teil ihrer selbst, nämlich einer Gruppe von Menschen, eine bestimmte Ressource zum freien Gebrauch zu allgemeinen Zwecken. Das bedeutet übrigens, das sei hier nur nebenbei bemerkt, dass die Idee der kollektiven Verfügung auch über die begrenzten Naturressourcen nicht nur, wie Kant das bereits feststellte, die Bedingung der Möglichkeit des Privateigentums, sondern ebenso der Commons ist. Alles, was zur Ressource werden kann, also grundsätzlich alles, ist bereits ein Common, sonst könnte es nie von einer bestimmten Gruppe als solches genutzt werden. Das impliziert z.B., dass die Nutzung dieser Ressource in einer Weise geschieht, die man mit einem heute gängigen Modewort als nachhaltig bezeichnen würde. Denn ihre Verwendung durch eine bestimmte empirisch gegebene Gruppe darf nicht die durch künftige Generationen ausschließen. Es impliziert überdies, dass die Früchte bzw. Produkte, die aus dieser Verwendung hervorgehen, solche der Allgemeinheit sind und ihr zustehen. Deshalb sind sie ihr schlicht abzugeben und nicht mehr zu tauschen.

Das Prinzip der Freiwilligkeit
Die kollektive Verfügung ist jedoch nicht das einzige Prinzip des Commonismus. Das andere ist für die Autoren die Freiwilligkeit des eigenen, individuellen Beitrages zur gesellschaftlichen Re/Produktion. Ohne dieses zweite Prinzip wäre der Commonismus nicht das, was die Autoren inklusiv nennen, die Bedürfnisse der Individuen wären nicht ins Allgemeine eingeschlossen. Vielleicht würden ihre konsumtiven Bedürfnisse befriedigt, nicht jedoch ihre produktiven. Was die Autoren jedoch nicht grundsätzlich thematisieren, obwohl sich die Problematik, die sich daraus ergibt, wie ein roter Faden durch ihre Darstellung des Commonismus zieht, ist, dass diese beiden Prinzipien, auf deren Einheit sich nur eine freiere Gesellschaft aufbauen lässt, einander in Bezug auf eine entscheidende Ressource ausschließen. Diese Ressource ist die menschliche Arbeitskraft, auf deren Anwendung der gesamte kapitalistisch produzierte Reichtum, also der in Werten gemessene, aber eben auch teilweise der stoffliche Reichtum an Gebrauchswerten beruht, und die unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen wie die Dinge oder Mittel zu einer Ware gemacht wird. Entscheidendes Merkmal des Commonismus hingegen ist, dass die Arbeitskraft der Individuen nicht zu einem Common werden kann. Oder umgekehrt: Zu einem Common können nur die gegenständlichen Bedingungen ihrer Äußerung bzw. ihre Vergegenständlichungen werden. An dieser Stelle ist der Commonismus vollständig exklusiv. Über die Arbeitskraft der Individuen gibt es keine kollektive Verfügung, sonst wäre das andere Prinzip, die Freiwilligkeit eingeschränkt. Soll jedoch die „entfaltete Individualität zur Grundlage der Gesellschaft“ (S. 157) werden, muss letztere Vorrang vor dem Prinzip kollektiver Verfügung haben. Weder ein einzelnes Common, noch die commonistische Gesellschaft als Ganze darf den Individuen ihre Arbeitsleistung abzwingen. Wir möchten an dieser Stelle die Diskussion der Organisation der commonistischen Gesellschaft vorwegnehmend, die wir an späterer Stelle genauer untersuchen wollen, nur bemerken, dass die grundsätzliche Einschränkung des Prinzips der kollektiven Verfügung bezüglich der Arbeitskraft ganz unabhängig davon gelten muss, wie sich die commonistische Gesellschaft insgesamt organisiert. Es ist also unter diesem Gesichtspunkt völlig gleichgültig, ob sie das in Form eines wie auch immer gearteten Zentralismus tut oder nicht.

Das Verhältnis von Freiwilligkeit und kollektiver Verfügung
Es ist aber nicht nur so, dass das Prinzip der Freiwilligkeit das der kollektiven Verfügung begrenzt, sondern es ist auch umgekehrt so, dass es sich nur auf der Basis des Prinzips der kollektiven Verfügung gewährleisten lässt. Dass weithin selbständige Commons sich nicht in zwanghafter oder ausbeuterischer Art und Weise selbst organisieren, kann nur durch Gewalt oder dadurch verhindert werden, dass ihre Mitarbeiter – salopp gesprochen – ins nächste Supermarktcommon spazieren können, um sich dort einfach die Dinge aus dem Regal zu nehmen, die sie brauchen. Erst dann können sie ein mit Zwang organisiertes Common verlassen und sich einem anschließen, das den Grundsatz der Freiwilligkeit auch ernst nimmt. Die Freiwilligkeit gewaltlos zu garantieren, ist nur dadurch möglich, dass die allgemeine Versorgung sichergestellt wird. Allgemeine Versorgung beinhaltet jedoch nicht nur, dass die unmittelbaren Lebensmittel bereitgestellt werden, deren die Individuen bedürfen, um das zu befriedigen, was die Autoren ihre sinnlich vitalen Bedürfnisse nennen. Neben dem, was heute normalerweise unter Konsum verstanden wird, gibt es auch das, was Marx als produktiven Konsum bezeichnet, also den Konsum von Arbeitsmitteln und Rohstoffen im Produktionsprozess. Um sich entfalten zu können, müssen die Individuen auch ihre von den Autoren so genannten produktiven Bedürfnisse befriedigen können. Nur Freiwilligkeit zu garantieren, greift deshalb zu kurz. Die Freiwilligkeit ist eine nur negative Bestimmung, sie bezeichnet nur die Absenz von Zwang oder dass ich mich ihm entziehen kann, ohne verhungern zu müssen. Der freie Wille muss sich jedoch auch äußern können. Soweit er sich in gegenständlicher Tätigkeit äußert, bedarf er dazu auch der Verfügung über die entsprechenden gegenständlichen Bedingungen. Es zeigt sich, dass die kollektive Verfügung über diese Bedingungen ihrerseits die Bedingung der Möglichkeit sowohl der Freiwilligkeit als auch der freien Tätigkeit ist.

Das Problem der Kohärenz
Das zentrale Problem, das eine commonistische Gesellschaft demzufolge zu lösen hat, ist das der Kohärenz. Darunter verstehen die Autoren, dass „die gesellschaftlich notwendigen Funktionen so erfüllt werden, sodass sich die Gesellschaft reproduzieren, also erhalten kann. […] Eine wesentliche Herausforderung für jede gesellschaftliche Kohärenz ist die Übereinstimmung von Begehrtem und Hergestelltem, anders ausgedrückt: von Bedürfnissen und den geschaffenen Mitteln zu ihrer Befriedigung“ (S. 137). Das ist aber für eine commonistische Gesellschaft eine ganz andere Herausforderung als für alle bisherigen. Denn alle Gesellschaftsformationen, die wir kennen, haben solche Kohärenz nur durch Zwang und auch nur mehr schlecht als recht herstellen können. Unter Bedingung der Freiwilligkeit gilt jedoch für den Commonismus: „Ideal wäre es, wenn die freiwillig realisierten Möglichkeiten automatisch die Notwendigkeiten abdecken würden“ (S. 158). Diesbezüglich unterscheiden sich die Überlegungen der Autoren auch von der gesamten marxistischen Tradition, die bei der Lösung des Kohärenzproblems stets auf die Verallgemeinerung der Arbeitspflicht bei gleichzeitiger umfassender Reduzierung der Arbeitszeit setzte. Tatsächlich blieb davon in den realsozialistischen Staaten nur die allgemeine Arbeitspflicht übrig, was wohl die Autoren dazu veranlasst, den Commonismus radikal anders, nämlich vom Prinzip der Freiwilligkeit ausgehend zu denken. Wie jedoch freiwillige Re/Produktion in selbstorganisierten Commons mit dem, was gesellschaftlich notwendig ist, zur Deckung gebracht werden kann, avanciert damit zur entscheidenden Frage für die kategoriale Utopie des Commonismus.

Vermittlung durch Commoning
Die Antwort der Autoren darauf ist: „Vermittlung durch Commoning“ (S. 169). Was ist aber darunter zu verstehen und wie organisiert oder strukturiert sich eine commonistische Gesellschaft? Denn bei der Vermittlung durch Commoning geht es schließlich darum, wie sich die einzelnen Commons zu einer commonistischen Gesellschaft zusammenschließen. Den Autoren zufolge werden wie im Kapitalismus auch im Commonismus die sozialen Verhältnisse sachlich vermittelt. „Vermittlung geschieht vor allem über Mittel. Diese sind die Träger der Vermittlungsform. Im Kapitalismus spiegeln die Mittel die Vermittlungsform Tausch und die daraus entstehende Exklusions- und Verwertungslogik wider. Sie verkörpern die gesellschaftliche Logik. Materielle Mittel – z.B. Küchengeräte – sind oft schwer zu reparieren, sodass sie neu gekauft werden müssen, wenn sie defekt sind. Symbolische Mittel – z.B. Kulturgüter – werden künstlich verknappt, um ihre Warenform zu erhalten. Soziale Mittel – z.B. Methoden der Arbeitsorganisation – ermöglichen eine möglichst kosteneffiziente Verwertung der menschlichen Arbeitskraft. Die Logik der kapitalistischen Gesellschaft wird über Mittel als konkrete Handlungsaufforderungen umgesetzt. Die Mittel verkörpern, was mit ihnen gemacht werden müsste, um sie erfolgreich zu produzieren, zu verkaufen und zu konsumieren. Sie verbinden die Menschen, sie stellen die Vermittlung der Gesellschaft her. Nicht anders ist es im Commonismus“ (S. 169).
Das ist einer der, wenn nicht der interessanteste Gedanke in dem Buch. Um ihn recht zu begreifen, sollte man sich zuerst die mögliche Intention der Autoren vergegenwärtigen. Was sie transpersonale Beziehungen zwischen Menschen nennen, nämlich, dass die, ohne einander zu kennen und direkt miteinander zu interagieren, miteinander verbunden sind und deshalb dem Begriff einer Inklusionsgesellschaft entsprechend ihre Bedürfnisse bei der Verfolgung eigener Vorstellungen und Zwecke einbeziehen sollen, kann wohl nur auf der Grundlage einer sachlichen Vermittlung gelingen. Man könnte sagen, die Autoren nehmen endlich den Anspruch ernst, mit dem bereits das Bürgertum auf die Barrikaden ging, aber den es selbst nie einlöste, an die Stelle der Herrschaft von Menschen über Menschen die Verwaltung der Sachen zu setzen. Sie übernehmen also die sachliche Vermittlung sozialer Beziehungen vom Kapitalismus, weil nur so eine wahrhafte Allgemeinheit entstehen kann und sie vermutlich fürchten, dass eine Gesellschaft, die dieses Prinzip aufgibt, in Formen direkter, oder wie sie sagen, interpersonaler Herrschafts- und Gewaltverhältnisse zurückfallen könnte.

Abgrenzung vom Zentralismus
Diese berechtigte Besorgnis motiviert die Autoren zu einer grundsätzlichen Kritik verbreiteter Gegenvorstellungen zum Kapitalismus anarchistischer oder kommunistischer Couleur. Sie alle liefen auf eine Interpersonalisierung transpersonaler Beziehungen hinaus. Weder ließe sich die freie Gesellschaft als riesiges WG-Plenum organisieren, noch sei es wünschenswert, die Gestaltung der gesellschaftlichen Vermittlung an eine zentrale Institution zu delegieren, sei es nun eine staatliche Planungsstelle wie im Realsozialismus oder seien es Räte. Zwar ermögliche die Zentralisierung vermittels hierarchischer Strukturierung tatsächlich interpersonal Prioritäten zu setzen und Ressourcenzuweisungen zu planen, aber: „Bedürfnis- und Ressourcenkonflikte müssen beim kummulierend hierarchischen Transport nach oben von Menschen gelöst werden, die in der Regel nicht von ihnen betroffen sind. Die Ergebnisse solcher Konfliktlösungen haben demzufolge gegenüber den Betroffenen stets einen fremden Charakter: Es sind nicht meine Lösungen, warum sollte ich ihnen folgen?“ (S. 173). Das ist allerdings keine besonders überzeugendes Argument gegen eine Zentralisierung. Schließlich kennen die Menschen seit Jahrtausenden die Institution des Richters, die sich durchaus bewährt hat, wenn es darum geht, in Konflikten zu vermitteln und gerade, wenn die beiden Konfliktparteien sich allein einigen müssen, wächst die Gefahr, dass das nicht gelingt. Vor allem jedoch scheinen die beiden Autoren zu vergessen, dass ihre freie Gesellschaft nicht allein auf dem Prinzip der kollektiven Verfügung, sondern auch auf dem der Freiwilligkeit beruht. Auf die Frage, warum ich einer Lösung folgen sollte, wenn sie mir nicht einleuchtet und meine Bedürfnisse nicht berücksichtigt, gibt es die einfache Antwort, dass ich das auch gar nicht muss. Für die Autoren schließt Zentralisierung automatisch Dirigismus und Zwang ein – was angesichts der historischen Erfahrungen verständlich, aber keineswegs logisch notwendig ist. Wir werden noch auf dieses Problem zurückkommen, wollen aber zunächst weiter dem Gedankengang von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz folgen.
Wie denken sie, das Problem zu lösen, das sie selbst aufgeworfen haben? Wie ist ihnen zufolge eine transpersonale Selbstorganisation, die sich eben dadurch auszeichnet, dass sie sich selbst Zwecke setzt, statt sich einem verselbständigten Verwertungszwang zu unterwerfen, ohne Zentralisierung möglich? Denn während die Verständigung über Zwecke auf interpersonaler Ebene verhältnismäßig unproblematisch erscheint, sieht das auf transpersonaler Ebene ganz anders aus. „Auf transpersonaler Ebene ist sie (die Selbstorganisation, Anm. der Redaktion) jedoch keine bewusste Zwecksetzung eines weltweiten Plenums, Zentralplangremiums oder Weltrats, sondern sie ist das emergente, also sich ergebende Phänomen der interpersonalen Selbstorganisation und ihrer Vermittlung. Diese Vermittlung basiert auf Stigmergie und interpersonaler Konfliktbearbeitung […] Die commonistische Vermittlung – Commoning – plant nicht die Gesellschaft, sondern sie ermöglicht die Selbstplanung und Selbstorganisation der Menschen“ (S. 175). Das klingt gut. Was aber ist diese Stigmergie, auf der das Commoning beruhen soll?

Stigmergie
„Stigmergie ist ein Begriff, der die kommunikative Koordination in einem dezentral organisierten System beschreibt, das eine große Anzahl von Individuen umfasst (etwa einem Schwarm, vgl. Schwarmintelligenz): Die Individuen des Systems kommunizieren miteinander, indem sie ihre lokale Umgebung verändern. Sie hinterlassen Hinweise – vgl. stigma: Zeichen. Dies kann die Packungsbeilage eines Medikamentes oder die Form einer Glühbirne sein“ (S. 176). Dass der Begriff der Termitenforschung entstammt, lässt ihn auf den ersten Blick nicht gerade geeignet erscheinen, auf seiner Basis eine freie Gesellschaft zu denken. Termiten hinterlassen beim Bau ihres Hügels Geruchsstoffe, die den anderen Hinweise darauf geben, wie der Bau fortzusetzen ist. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass hier der Instinkt den Plan ersetzt. Ein besseres Beispiel findet sich bei Wikipedia. Wikis werden dort als Produkte von Stigmergie beschrieben. Einer legt eines zu einem bestimmten Begriff an, andere führen es fort – ohne dass sie einander kennen oder direkt kollaborieren müssen. In ähnlicher Weise kann man sich vielleicht auch die Arbeit an freier Software vorstellen.
Auch der Markt ist den Autoren zufolge ein stigmergisches System. Und tatsächlich scheint der Commonismus nicht anders zu funktionieren als die kapitalistische Warenproduktion. Eine Einzelproduktion stellt etwas her und dann muss sich zeigen, ob es andere gibt, die etwas mit dem Produkt anfangen können und es weiterverarbeiten oder konsumieren. Das bekannte Problem daran ist, dass sich so der Gesamtzusammenhang der Produzenten hinter ihrem Rücken geltend macht. Das wissen auch die Autoren. Sie sehen für den Commonismus deshalb eine „Ex-Ante-Vermittlung“ vor: „Im Commonismus wird diese Abstimmung ex ante (im Vorhinein) stattfinden. Die Basis der Herstellung und der Erhaltung sind die antizipierten Bedürfnisse. Im Markt sind Preissignale, Erfahrungen und Marktanalysen die Basis der Produktion. Im Commonismus geht eine stigmergische und möglicherweise konfliktvolle Verständigung über Bedürfnisse der Re/Produktion voraus“ (S. 182).

Gesellschaft als Netzwerk
Aber wo und wie findet sie statt? Die Antwort der Autoren: Im Netzwerk, das für sie jede Gesellschaft darstellt. Dieses Netzwerk baut sich aus Knoten und sogenannten Hubs auf. Die Hubs sind besonders wichtige Knoten, weil in ihnen Informationen und Wirkungen zusammenlaufen. Die Beziehungen der Hubs heißen Kanten. „Im Kapitalismus sind Unternehmen oder staatliche Organisationen Hubs. Im Commonismus sind es die Commons, die Meta-Aufgaben übernehmen. Also Aufgaben, welche die Selbstorganisation anderer Commonsprojekte erlauben“ (S. 179). Wir müssen zugeben, wirklich durchdrungen haben wir die Netzwerktheorie der Autoren nicht. Das mag auch daran liegen, dass sie ihr nur einen kleinen Informationskasten und ein Schaubild widmen und ihre Begriffe nicht einheitlich verwenden. So zeigt das Schaubild Institutionen, von denen im Erklärungskasten keine Rede ist. Wir argumentieren also im Weiteren auf Basis des möglicherweise unzureichenden oder gar falschen Verständnisses, das wir uns von der Sache gebildet haben. Die Hubs sind demzufolge, was auch mit den Beispielen der Autoren übereinstimmt, Koordinationseinheiten. Sie sind nötig, wenn die Bedürfnisse, wie die Autoren sagen, antizipiert werden sollen. Diese Koordinationscommons stehen wieder in Beziehung nicht nur zu den eigentlichen Produktionseinheiten, sondern auch über die genannten Kanten mit anderen Koordinationscommons. Mit anderen Worten auch das commonistische Netzwerk bildet wie jedes Netzwerk eine Verwaltungsstruktur aus, und in all diesen Koordinationscommons wird die Produktion geplant. Allerdings sind die Produktions- sowie die Verwaltungseinheiten den Voraussetzungen zufolge, die die Autoren machen, gegeneinander selbständige Commons. Das bedeutet jedoch, dass die Produktionseinheiten an der Koordination nicht beteiligt sind. Wäre da nicht eine Rätestruktur den Intentionen der Autoren angemessener? Denn da würden sich die Koordinationscommons gewissermaßen aus den Vertretern der einzelnen Produktionscommons zusammensetzen. Auch gibt es, auf den ersten Blick zumindest, keinen logischen Grund, warum es nur eine Koordinationsebene geben sollte, warum nicht Hubs entstehen sollten, die nun ihrerseits wieder die Arbeit in den koordinierenden Hubs koordinieren und das Netz sich zu einer zentralen Struktur ausbilden sollte.

Kritik
Es gibt jedoch sehr wohl einen logischen Grund dafür, dass genau dies geschehen sollte. Der Commonismus übernimmt, wie die Autoren ausführen und wir im Vorherigen bereits diskutiert haben, vom Kapitalismus das Prinzip der sachlichen Vermittlung. Doch sind die Dinge bzw. Mittel weder von Natur aus Waren noch Commons. Als Commons sind die Sachen als Produkte freier Tätigkeit bestimmt, über die kollektiv verfügt wird. Sie werden dementsprechend nicht mehr getauscht, sondern abgegeben. Darin äußert sich jedoch nur ihre negative Bestimmung als Common, nämlich dass sie kein ausschließendes Eigentum sind und dass sie nicht für den Eigenbedarf produziert sind. Die positive Bestimmung eines Common wäre hingegen, dass die Individuen an der Verfügung über es teilhaben, nicht über es als eine einzelne Sache, aber über das Gesamtprodukt, dessen Teil jedes Common ist, wenn das Common die Elementarform des Commonismus ist. Über die Verwendung der Commons entscheidet also die Gesamtheit der Individuen, richtiger noch: die Allgemeinheit. Dazu bedarf es einer sie zusammenfassenden Verwaltungsstruktur. Dass die sich einfach so aus dem Netz von Commons „emergent“ ergebe, wie die Autoren behaupten, klingt wie der Glaube an die „invisible hand“ von Smith. Und nur ihre Gleichsetzung von Zentralismus und Dirigismus verleitet sie offenbar zu diesem Glauben. Aber eine gewisse Zentralisierung ist notwendig, und das bedeutet nicht automatisch, dass die Koodinationsstellen oder -commons Befehlsgewalt haben. Wie wir schon hervorhoben, kann Freiwilligkeit nur gewährleistet werden, wenn die allgemeine Versorgung sichergestellt ist. Dazu muss der Bedarf ebenso wie die Kapazitäten ermittelt werden, was soll sonst heißen, dass der Commonismus sich durch eine Ex-Ante-Vermittlung auszeichne. Erst wenn transparent ist, was nötig ist, dann kann auch das zur Geltung kommen, was die Autoren stigmergisches Gesetz oder das Gesetz der großen Zahl nennen: „Gibt es ausreichend Menschen und Commons, so wird sich für jede Aufgabe, die getan werden muss, auch eine Person oder ein Commons finden.“ Das dürfte tatsächlich nicht so schwierig sein, wie immer von den Apologeten des Marktes getan wird. Schon heute sind die Produktionen technisch von einander abhängig und deshalb weithin vernetzt. Und das Internet der Dinge wird die alltägliche Bedarfsermittlung weithin automatisieren.
Was gesellschaftlich notwendig ist, ist jedoch keine feste, sondern eine dynamische Größe, unsere Bedürfnisse sind nicht naturgegeben, sondern wie alles andere auch Produkte gesellschaftlicher Entwicklung. Was der Bedarf ist, kann nur festgestellt werden, indem sich die Gesellschaft Zwecke setzt. An solcher gesellschaftlicher Zwecksetzung müssen die Individuen und Commons aber partizipieren können. Wie soll das ohne eine zentrale Struktur, die am Ende das Netz selbst nur ist, möglich sein? Jedem einzelnen Common gestehen sie zu, sich selbst zu organisieren, nur die Gesellschaft als Ganzes soll das nicht tun? Am Ende sind nicht die einzelnen Mittel, sondern diese Selbstorganisation zum Zweck der Verwaltung der Sachen als Commons die allgemeine Sache, die die Beziehungen der Menschen transpersonal vermittelt.

Zur Keimformtheorie
Mit dem, was wir zur Keimformtheorie der Autoren, also ihrer Theorie der Entstehung des Commonismus zu bemerken wollen, schließen wir direkt an unsere vorherigen Ausführungen an. So wenig wir auf die Emergenz des Allgemeinen aus dem puren Zusammenwirken von Commons vertrauen, so wenig glauben wir an eine historische Emergenz des Commonismus als Systemform.
Es ist selbstverständlich völlig nachvollziehbar – und nichts anderes soll mit dem Begriff der Keimform bezeichnet werden –, dass sich die neue Form bereits im Schoße der bestehenden Verhältnisse entwickeln müssen. Keine konkrete Utopie kann darauf verzichten an solche Entwicklungen anzuschließen. Insofern die sich heute unter dem Begriff des Common zusammenfassen lässt, bzw., was wichtiger ist, sich die vielfältigen Versuche, anders zu produzieren und zu leben, die es überall gibt, sich unter dieser Bezeichnung zu sammeln beginnen, ist es auch treffend über eine Gesellschaftsform des Commonismus nachzudenken. Dass solche Versuche zunehmen werden, je krisenhafter sich die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse gestaltet, ist, recht wahrscheinlich. Nicht sehr wahrscheinlich, dass die pure Ausbreitung solcher Formen oder ihre Verallgemeinerung zu dem führen, was die Autoren einen Dominanzwechsel nennen, also dazu dass das Commoning zur dominanten gesellschaftlichen Vermittlungsform wird. Aber es wäre auch keinesfalls wünschenswert, denn es würde bedeuten, dass die neue Gesellschaftsform genauso naturwüchsig entstehen würde wie alle anderen Gesellschaftsformationen bisher. Von der alten Revolutionstheorie wollten aber die Autoren selbst dies übernehmen, dass die gesellschaftliche Veränderung einen Bruch mit der bisherigen Geschichte beinhalten muss. Und dieser Bruch kann nur darin bestehen, dass die Menschen anfangen, ihre Geschichte mit Bewusstsein zu machen. Deshalb ist es wichtig, dass, wie oben erwähnt, sich die Menschen, die etwas anderes wollen, unter dem Begriff des Commonismus sammeln, dass sie darüber diskutieren, wie sie sich Befreiung denken. Deshalb ist auch eminent wichtig, dass solche Bücher wie das von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz geschrieben werden, in denen – und genau das zeichnet Bewusstsein aus – zunächst der Zweck bestimmt wird, um davon ausgehend, nach möglichen Wegen zu suchen. Zum Bewusstsein gehört jedoch auch, das Wissen, dass die Entstehung des Neuen, die tatkräftige Auseinandersetzung mit dem Alten erfordert, das von sich aus nicht einfach den Platz räumen wird. Mit anderen Worten: der Akzent der Keimformtheorie liegt uns zu sehr auf den mannigfaltigen Versuchen des Commoning und zu wenig auf seiner zielgerichteten Zusammenfassung, um die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu überwinden.
Wir möchten am Schluss versuchen, in Bezug auf einen Bereich, den wir inzwischen für die Gesamtproduktion für zentral halten, anzudeuten, was wir meinen. Das ist der Bereich des Wissens. Die Autoren sprechen zu recht vom Wissenskommunismus, weil das an sich allgemeine Wissen keine knappe Ressource ist. Seine Bedeutung für die Gesamtproduktion wächst jeden Tag und es wird immer schwieriger das Wissen zu privatisieren, je weiter sich die Computertechnik entwickelt. Es ist nun schwer nachvollziehbar, warum die breite Bewegung freier Softwareproduktion so wenig erfolgreich war. Schließlich ist freie Software ein Produkt, das den Kapitalismus auf seinem eigenen Feld schlagen kann. Mit einer kostenlosen Ware kann kein kapitalistisches Unternehmen auf Dauer konkurrieren. Da Stefan Meretz, selbst Entwickler freier Software, von Anfang an in dieser Bewegung sehr aktiv war, hätte man sich ihre ausführlichere Analyse gewünscht. Wie war es möglich, dass statt Linux sich Windows und Macintosh verbreitete. Warum ist Facebook das zentrale Kommunikationsmedium, warum Google die entscheidende Suchmaschine? Waren die Entwickler vielleicht so begeistert von den Möglichkeiten der freiwilligen Kooperation, die sich ihnen bot, dass sie über dem selbstverliebten Herumbasteln an Programmen den allgemeinen Bedarf aus dem Blick verloren? Und haben sie dabei eventuell auch vergessen, dass die Vorwegnahme freierer Produktionsformen nicht von selbst auch zu einer freieren Gesellschaft führt, sondern dass diese Produktion dazu genutzt werden muss, das Alte wegzuschaffen, damit es Platz für das Neue gibt?

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2 Responses to Was ist Commonismus?

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