Programm

Der Realismus ist utopistisch, die Utopie realistisch.

Mit Teichoskopie (griechisch: teichos = Mauer, skopein = wachen, schauen) oder Mauerschau bezeichnet man in der Literaturwissenschaft den Bericht, den eine oder mehrere Figuren eines Theaterstücks von einem handlungsrelevanten Geschehen geben, das auf der Bühne nicht gezeigt werden kann oder soll. Der oder die Berichterstatter haben z.B. dadurch, dass sie höher postiert sind, freie Sicht auf Vorgänge, die durch ein Hindernis, z.B. eine Mauer, für die anderen Figuren und das Publikum verdeckt sind. Indem sie sich darüber unterhalten oder einfach nur beschreiben, was nur sie sehen können, wird, was auf der Bühne nicht sichtbar ist, zum Teil der Dramenhandlung. Die Mauerschau ist dem Botenbericht verwandt und beide werden zuweilen auch unter dem Terminus „Verdeckte Handlung“ zusammengefasst. Für den Zuschauer sind die verdeckten Handlungen nur indirekt erfahrbar. Was er tatsächlich sieht, sind die Reaktionen, die ihr Bericht auslöst. Im Unterschied zum Botenbericht aber, durch den etwas Vergangenes bekannt gemacht wird, und mit dem gewissermaßen ein episches Element in das Drama hineinragt, wird mittels der Teichoskopie etwas zum Thema, das sich zeitgleich zur Bühnenhandlung abspielt. Es ist selbst ein gegenwärtiges Moment des unmittelbar gegenwärtigen Geschehens, das der Zuschauer auf der Bühne betrachten kann. Und weil es nicht vergangen ist, muss es auch nicht auf Treu und Glauben als Überliefertes angenommen werden, sondern zumindest potentiell könnte es jeder, der sich nicht von dem Hindernis abhalten lässt, selbst in Augenschein nehmen.

Wie im Theater die Berichtenden wollen auf dieser Website verschiedene Autoren und Autorinnen den Blick über die Mauer wagen. Dabei handelt es sich allerdings nicht um die allbekannte „Mauer in den Köpfen“. Die Metapher ist nicht nur abgeschmackt, sondern auch falsch, bzw. ist sie, weil sie falsch ist, ästhetisch schwer erträglich. Das Hindernis bilden die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Menschen miteinander eingehen, und deren Verkehrtheit auch ihr Vorstellungsvermögen in ihrem Bann hält. Anders als die Bühnenmauer verdecken sie jedoch kaum mehr die objektive Möglichkeit eines zumindest friedlicheren und vernünftigeren Zusammenlebens, aber sie trennen uns schroff von ihr ab. Sie lassen das konkret Mögliche unmöglich und diejenigen, die es in den Blick nehmen, als abstrakte Utopisten erscheinen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Zeitschrift verbindet hingegen die Überzeugung, dass genau das Umgekehrte zutrifft, dass der unsere Gegenwart beherrschende Ungeist des Realismus und Pragmatismus keineswegs seinen eigenen, sehr bescheidenen Ansprüchen gerecht wird, dass ihm nicht einmal jene „Problemlösungskompetenz“ zukommt, auf die er sich so viel einbildet, und dass nur, was er als utopisch perhorresziert, die Knoten lösen kann.

Realismus und Pragmatismus sind alles andere als wertfrei oder „unideologisch“, sondern geistige Verhaltensweisen einer komplett instrumentell gewordenen Vernunft, derzufolge alles und jedes, auch gesellschaftliche Widersprüche, nur als technisches Problem zu betrachten sei, das einer rein technischen Lösung zugeführt werden kann und muss. Sie blendet ab, dass die Technik und die Technologie sich im Verhältnis zu bestimmten Produktionsverhältnissen entwickeln, dass noch der Glaube an die Allmacht der Technik, von dem sie beseelt ist, einer Produktionsweise zugehört, die völlig verselbständigt gegen jede humane Zwecksetzung nur dem Prinzip der Verwertung des Werts vermittels beständiger Steigerung der Produktivität gehorcht, welches auch immer die Opfer seien mögen, die dieser Gott fordert. Indem sie die Technik verabsolutiert, von ihren gesellschaftlichen Bedingungen abstrahiert, wird sie aber auch ihr nicht gerecht. Die berühmte Entfaltung der Produktivkräfte bedarf sozialer Phantasie, die sich nicht an die sozialen Grenzen hält, die dieser Entfaltung im Bestehenden gesetzt sind, und die sich ihrerseits nur im Zusammenhang mit der Wahrnehmung jener technischen Möglichkeiten entwickeln lässt, weil ihr sonst der Stoff zum Phantasieren fehlte. So wie die Entfaltung der Produktivkräfte sich nicht in einem wilden, naturwüchsigen Drauflosproduzieren als Selbstzweck verwirklicht, sondern in der Indienstnahme technischer Einbildungskraft zu menschlichen Zwecken, so lässt sich, was konkret menschlicher Zweck sei, nur im Verhältnis zum jeweiligen Stand der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, auch der eigenen, bestimmen.

Das Verfahren, in dem sowohl die bestehende Realität als auch deren bessere Möglichkeit der Erkenntnis erschlossen werden soll, ist das der immanenten Kritik. Sie bildet die Leiter, die die Autorinnen und Autoren an die Mauer lehnen, um an ihr aufsteigend, einen Blick auf die andere Seite zu werfen. Immer wieder werden sie an dem Unterschied zwischen dem ansetzen, was Sachzwang genannt wird, und nur der Zwang ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Formbestimmtheit ist, und einer Logik der Sache, die nicht davon absieht, dass sie von Menschen für Menschen produziert ist.

Obwohl dieser Unterschied und der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, der ihm zugrundeliegt, jeden Tag deutlicher hervortreten, und man deswegen erwarten sollte, dass die Produktionsverhältnisse und ihre Veränderung den zentralen Gegenstand der öffentlichen Diskussion bilden, scheut und blockiert die Öffentlichkeit nichts so sehr wie dieses Thema. Diese Zeitschrift stellt einen Versuch dar, diese Blockade zu brechen. Deshalb werden auch diese Öffentlichkeit selbst, die Journaille und ihre Weiterentwicklung, die sogenannte Bewusstseinsindustrie, und die Desinformation, die sie de facto betreiben, einen wichtigen Gegenstand ihrer kritischen Betrachtung abgeben.

Ohne das Internet wäre das Konzept dieser Zeitschrift nicht nur nicht umgesetzt, sondern wahrscheinlich nicht einmal gedacht worden. Die Zeitschrift ist als der Versuch eines kleinen Autorenkollektivs, moderne Technik zu dem Zweck, einen Beitrag zur Konstitution einer Gegenöffentlichkeit zu leisten, in Dienst zu nehmen, das erste Beispiel für die oben dargestellte wechselseitige Abhängigkeit der Entwicklung von Technik und sozialer Phantasie. Das Internet bietet einzelnen die Möglichkeit, uneingeschränkt von den Schemata der üblichen Zeitungs-, Medien- und Wissenschaftsformate und ohne sich den Regelungen der Selbstzensur der entsprechenden Redaktionen zu unterwerfen, mit eigenen Produkten in die Öffentlichkeit zu treten. Autorinnen und Autoren können so Rechte wahrnehmen, die ihnen bisher von den zentralisierten Medien großzügig abgenommen wurden. Es gibt weder formale, noch inhaltliche Vorgaben, Aktualität ist ebenso wenig ein entscheidendes Kriterium, wie das thematische Diktat des öffentlichen Diskurses akzeptiert wird. Dass niemand außerhalb seiner Zeit schreibt, ist sowieso klar, einer bewussten Ausrichtung auf sie bedarf es nicht.

Solche Freiheit hat ihren Preis. Die Autorinnen und Autoren werden nicht bezahlt und können sich nicht einmal Reputation von ihren Veröffentlichungen erwarten. Sie gehen einer geregelten Erwerbstätigkeit nach, die ihnen wenig Zeit zum Schreiben lässt und die oft nicht sehr viel mit Journalismus, Literatur oder Wissenschaft zu tun hat. Sie sind Freizeitschriftsteller und im besten Fall das, was Günther Anders Gelegenheitsphilosophen genannt hat. Es fehlt ihnen darüber hinaus sowohl der technische, als auch der organisatorische Apparat, der Berufsschreibern und der etablierten Wissenschaft zur Verfügung steht. Sie sind, was die Beurteilung des gesellschaftlichen Geschehens angeht, weitgehend von dem abhängig, was die Öffentlichkeit, gegen die sie sich formieren wollen, an Information und Wissen bereitstellt. Mit ihren nur rudimentären Möglichkeiten eigener Recherche und Untersuchung, müssen sie sich zumeist auf die kritische Reflexion allgemein verbreiteter Information zu gesellschaftlich relevanten Vorgängen und den Versuch beschränken, sie zu ihrer individuellen Erfahrung in Bezug zu setzen. Ihre Produkte schließlich überantworten sie der Beliebigkeit einer Art technischen Pluralismus‘, der sie zu entwerten und zu neutralisieren droht, und in dem sich das Internet als Weiterentwicklung eben jener Öffentlichkeit offenbart, die die Autorinnen und Autoren mit ihrer Zeitschrift gerade verändern wollen. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie durch ihre Anstrengung allein, wohl kaum aus der Vereinzelung, Isolierung und sozialen Diffusion werden ausbrechen können, die sich in dem Medium auch vergegenständlicht. Deshalb unternehmen sie auch den Versuch dazu nicht, weil sie sich irgendwie moralisch verpflichtet fühlen, ihren Beitrag zur Veränderung der Verhältnisse zu leisten, sondern weil ihnen ihr abgesondertes Dasein und ihr in sich gekehrtes Verstummen angesichts des alltäglichen Irrsinns unerträglich geworden ist und sie sich in einer Online-Zeitschrift wenigstens äußern können – auch wenn es keiner hören oder lesen sollte.

Die Vereinzelung ist jedoch nicht nur ein soziales und technisches, sondern auch ein erkenntnistheoretisches Problem: Wie sollen die dergestalt Isolierten ihre sozial produzierte Beschränktheit überwinden?

Quasi anachronistisch rekurriert das Autorenkollektiv dabei auf die ursprüngliche Idee von Aufklärung, um sie gegen ihre fatale Dialektik dialektisch weiterzuentwickeln. Immanuel Kant hat in seinem berühmten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ ganz entsprechend der Struktur bürgerlicher Öffentlichkeit, den Privatgebrauch der Vernunft, also den, den man in Beruf und Familie von ihr macht, und der, um der Funktionalität des Ganzen willen dessen Mechanismus unterworfen bleiben muss, vom öffentlichen Gebrauch, den man frei, coram publico als eine Art Gelehrter von derselben Vernunft machen können sollte, geschieden. Naiv wäre es, zu glauben, der Bruch zwischen beiden Sphären, ja ihr Gegensatz, ließe sich auf irgendeinem Mittelweg überbrücken oder gar kitten. Jede Statistik belehrt darüber, wie weit individuelle Erfahrung und offizielles Wissen auseinanderliegen. Falsch wäre es aber ebenso, sich davon in politische Apathie treiben zu lassen. Denn auch Kant unterstellt, dass in beiden Bereichen ein und dieselbe Vernunft walte. Der Mechanismus, dem der Privatgebrauch der Vernunft unterworfen sein soll, ist keiner. Um zu funktionieren, bedarf es zumindest einer inzwischen ausgebildeten Urteilskraft der Individuen. Dank der Kenntnisse, die sie als Produzenten haben müssen, um ihren Beruf überhaupt ausüben zu können, und der in ihrer Tätigkeit gewonnenen Erfahrungen sind sie sehr wohl in der Lage sachliche Erfordernisse und Möglichkeiten von ökonomischen und sozialen Sachzwängen zu unterscheiden, ihnen zu konfrontieren und die Dysfunktionalität des Funktionsmechanismus als „Gelehrte“ zum öffentlichen Thema zu machen. Ähnliches gilt von ihnen als Konsumenten. Vom Verbraucher wird verlangt, dass er sich kundig macht und in der Warenwelt auskennt. Er ist durchaus fähig, den Gebrauchswert zu erkennen und den Konsumzweck und seine Bedürfnisse einander gegenüberzustellen und so sowohl den Konsum in seiner Zwanghaftigkeit als auch seine Bedürfnisse in ihrer Borniertheit zu durchschauen. Solche Konfrontationen bilden den naiven Ansatzpunkt, das zur Information geronnene allgemeine Wissen und die in Vorurteilen festgefahrene individuelle Erfahrung in Fluss zu bringen. Sind wir sozialisierte Vereinzelte? Gut, dann ist das eben so! Aber das ergibt vielleicht ebensoviele Punkte, an dem sich der Hebel ansetzen lässt, mit dem man die bestehende Gesellschaft aus den Angeln heben kann.

 

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