Juedisches Leben

Am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, dem Tag der Befreiung der Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz, war sie wieder bei allen Gedenkveranstaltungen in aller Munde, die Redewendung vom „Jüdischen Leben“, das hierzulande wieder blühe und gedeihe, wenn auch der Antisemitismus wieder erstarke. Es kann sein, dass man eigentlich mit diesem Ausdruck zu verstehen geben will, dass es immer noch oder wieder funktionierende jüdische Gemeinden in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern gibt. Es kann sein, dass man vermeiden will, von Gemeindeleben zu sprechen, weil es schließlich auch viele Juden gibt, die sich von ihrer Religion abgewandt haben, und sich trotzdem als Juden verstehen. Es kann also sein, dass mit „Jüdischem Leben“ die Fortexistenz von kulturellen Praktiken und Äußerungen bezeichnet werden soll, die auf jüdische Traditionen zurückgehen. Es kann auch sein, dass mit dieser Wortwahl trotzig betont werden soll, dass den Tätern nicht gelungen ist, was sie intendierten, nämlich die Juden und jegliche Erinnerung an sie auszurotten. Dennoch bleibt rätselhaft, wieso sich die Opfer und ihre Nachkommen den Verfolgern derart sprachlich und ideologisch assimilieren, dass sie diese unsägliche Sprachregelung, die sich im öffentlichen Diskurs hierzulande durchgesetzt zu haben scheint, einfach übernehmen. Fehlt ihnen das Sprachgefühl, um zu bemerken, dass sie sich mit dem Selbstverständnis, eine besondere Lebensform zu sein, eben jener Sphäre der Biologie einordnen, auf die die Rassenideologie der Nazis sich stützte? Soll mit dem Wort (den anderen) bedeutet werden, dass es trotz Verfolgung und Vernichtung weiterhin oder wieder jüdische Biotope in Deutschland gibt, die zu hegen und zu pflegen angesichts der deutschen Katastrophengeschichte die sogenannte deutsche Mehrheitsgesellschaft sich nicht verweigern kann? Und dass es zur Staatsräson des Rechtsnachfolgers des Dritten Reiches gehören muss, im Sinne einer menschlichen Umweltpolitik auch die Erhaltung und Entwicklung dieser Biotope zu fördern. Wenden die Juden damit nicht nur die Rassenideologie ins vermeintlich Positive, definieren sich zugleich als ein Stück Natur und als ein besonderes Stück, das zumindest sprachlich unterschieden ist vom Rest? Und noch viel schlimmer. Bestätigen Sie damit nicht die rassistische Stereotype vom Parasiten, der sich in den Poren des Wirts eingenistet hat und nun von dessen Schuldbewusstsein lebt? Und eben die unbezweifelbare Tatsache der Schuld lässt es angeraten sein, zu fördern statt zu selektieren? Oder handelt es sich bei der Rede vom „Jüdischen Leben“ um eine politische Sprachstrategie? Den Mördern sollen die Begriffe genommen werden, indem man ihnen durch ihre offensive Verwendung eine andere Bedeutung gibt. Das Leben der Menschen sei etwas anderes als der pure Bios, kulturell geprägtes Leben, Leben, das vom Naturzwang zumindest partiell emanzipiert ist, und in diesem Emanzipationsprozess hätten die Menschen eigene Formen zu leben ausgebildet. Eine davon sei die jüdische.

Aber eine solche Umdeutungsstrategie wäre hilflos, sie würde kontinuieren, womit zu brechen wäre. Im besten Fall tritt damit an die Stelle der Rasse die besondere Kultur. Der moderne Kulturalismus ist der Erbe des Rassismus – wie Balibar sagt: der Rassismus ohne Rasse. Rassen gibt es nicht. Wie Kant sagen würde, handelt es sich bei Rasse um einen leeren Begriff ohne mögliche Anschauung. Wie sich beweisen lässt – ohne dass das hier geschehen muss –, ist er mit der Biologie, aus der er sich doch ableiten können muss, unvereinbar. Das mussten, infolge der Niederlage in ihrem Rassenkampf unterm Druck der Besatzung durch die Siegermächte sogar die Deutschen lernen. Wohl oder übel mussten sie – und nicht nur sie – sich von der Einteilung der Welt in Rassen verabschieden. Welcher Labsal für die rassistische Seele muss es da sein, dass man sich nun einer Kultur zugehörig fühlen darf, die sich selbstverständlich über ihre Unterschiede zu anderen Kulturen definiert. Auf dieser neuen Grundlage können alle rassistischen Vorurteile und Stereotypen fröhliche Urständ feiern. So bewähren sich die geläuterten Rassisten, indem sie als Kulturmenschen auftreten und andere Kulturen akzeptieren, aber bitte nur, wenn die Angehörigen der anderen Kulturen dies auch tun und am besten in dem ihnen ursprünglichen Kulturkreis bleiben. Verhalten Sie sich hingegen ablehnend oder gar feindlich, so ist nicht mehr der Rassen- aber der Kulturkampf mit allen verfügbaren Mitteln zu führen.

Es sind nicht die Juden, die sich in den Poren der Gesellschaft festgesetzt haben, sondern der Rassismus, der nur der Gelegenheit bedarf und sie sucht, um sich seine verheerende Bahn zu brechen. Die objektive Bedingung seiner Kontinuität ist die Fortexistenz kapitalistischer Produktionsverhältnisse auch nach dem zweiten Weltkrieg und mit ihnen das, was die Kritische Theorie die Verlängerung des Naturzwangs in die Kultur genannt hat. Und die Forcierung der ihr zugehörigen Konkurrenz und ihrer Durchsetzung im Zeitalter der Globalisierung bietet die Gelegenheit, ihn in seiner modernisierten Form auszuleben. Die der kapitalistischen Produktionsweise bereits von Hegel attestierte expansive und aggressive Tendenz wird auf jene projiziert, die ihr zum Opfer zu fallen drohen und sich deshalb wehren. Die bedienen sich fataler Weise dabei oft derselben ideologischen Formen, unter denen sie wahrgenommen werden und ziehen im Namen der Religion als dem Grundbestand verschiedenartiger Kulturen in den Krieg. Darüber sollten sich die Juden nicht erhaben dünken. Sie verhalten sich wenig anders, wenn sie ihren kulturellen Betätigungen hierzulande, selbst das Etikett „Jüdisches Leben“ aufkleben. Nur dass sie aufgrund der Geschichte (noch) gewissermaßen in ausgewiesenen Schutzzonen leben dürfen, unterscheidet sie und ihre Haltung von der der Opfer des modernen Rassismus. Hinter ihrer Haltung mag die nackte Angst stecken, dass sich die Geschichte, trotz aller Vorkehrungen, doch in irgendeiner Weise wiederholen könnte. Das macht es verständlich, warum sie auf ihrem angeblichen Sonderstatus beharren und den Antisemitismus als den Kern des Rassismus ausmachen. Umgekehrt wird jedoch ein Schuh draus. Joseph Arthur de Gobineau, der Begründer der modernen Rassenlehre hatte es gar nicht nötig, offen antisemitisch zu argumentieren. Die Juden waren ihm eine Rasse unter anderen und als solche würdigte er sie sogar. Aber damit war tatsächlich der entscheidende Schritt getan. Denn erst dadurch, dass sie als Rasse definiert wurden, konnte aus dem jahrhundertealten Judenhass der Antisemitismus werden, der in ihrer systematischen Vernichtung terminierte. So war auch der Antisemitismus der Nazis Rassismus und der ist eine Art Fluidum. Der braucht immerzu jemanden, an dem die Ressentiments abreagiert werden können. Und der Rassist definiert, wer sein Opfer sein soll. Die Gruppen, gegen die sich die Aggressionen richten, können mithin wechseln. Deshalb verfolgten schon die Nazis schließlich nicht nur Juden. Und heute sind die Muslime und in der BRD vor allem die Türken die Juden.

Wer jedoch ausgerechnet von den Juden verlangt, dass sie, weil sie schließlich das Leid erfahren haben, als moralisches Gewissen dieser Nation die Transformation des Rassismus, dem sie zum Opfer fielen, eher durchschauen mögen, verfällt selbst dem positiven Rassismus. Zum einen würde er sie damit aus der Gesellschaft herausheben, in der sie leben, sie von ihr abtrennen und damit genau bestätigen, was die Rassisten von ihnen denken, nämlich dass sie Besondere sind, anders als alle anderen, weil vor dem rassistischem Denken gefeit, das die gesamte Gesellschaft durchzieht. Es spricht gegen den Rassismus, dass sie den gleichen Stereotypen zum Opfer fallen, unter die auch sie subsumiert wurden. Sie sind so blind dafür wie alle anderen auch. So demokratisch geht es inzwischen in der BRD zu. Aber im Gegensatz zu der der sogenannten Mehrheitsgesellschaft ist ihre Verblendung immerhin nachvollziehbar. Diskriminierung und Verfolgung machen keine besseren Menschen. Von traumatischer Angst davor beherrscht, dass sich die Geschichte wiederhole, bemerken sie nicht, dass sie sich schon wiederholt, oder richtiger: einfach weitergeht, wie wir sie kennen. Warum sollte man auch von den Verfolgten erwarten, dass sie klüger sind als ihre Verfolger? Gerade sie haben vor allem damit alle Hände voll zu tun, ihr „Jüdisches Leben“ zu schützen. So bekommt sogar dieser unheilvolle Ausdruck doch noch seinen Sinn.

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