Geschichten, die der Kapitalismus schreibt. Eine Kolumne von Klein-Dombrowski
Vor wenigen Tagen ging eine Nachricht durch alle Gazetten und über alle Sender, über die schon kurz darauf nicht mehr gesprochen und geschrieben wurde. Das ICCT (International Council on Clean Transportation) hatte eine Studie vorgelegt, wonach Diesel-PKW der modernsten Klasse Euro 6 nicht nur im Straßenbetrieb die gesetzlichen Grenzwerte für Stickoxidemmissionen um ein Mehrfaches überschreiten, sondern auch mehr als doppelt soviel Dreck in die Luft schleudern wie dieselbetriebene LKW. In Zahlen: Bei den PKW sind es im Durchschnitt 500 mg/km, bei den LKW 210 mg/km. Der zulässige Grenzwert für PKW liegt bei 80 mg/km. Der Vergleich zwischen PKW und LKW sollte jedoch nicht nur eine möglichst plastische, tendenziell sensationsheischende Darstellung des Ausmaßes der Luftverschmutzung liefern, die aufs Konto der Dieselmotoren in PKW geht, sondern er sollte zeigen, dass es längst eine deutlich sauberere technische Lösung gibt, die auch schon im Einsatz ist. Und das, so die Experten vom ICCT, sei realitätsgerechteren Tests zu verdanken, die mit mobilen Messgeräten im Straßenbetrieb an handelsüblichen LKW durchgeführt würden. Seit 2013, also seit 4 Jahren, ziemlich genau der Dauer der Legislaturperiode, in der Alexander Dobrindt von der CSU Verkehrsminister ist, sind solche Tests für die Typenzulassung bei LKW vorgeschrieben und seitdem sank deren Stickoxidausstoß drastisch. Bei den PKW hingegen werden bis heute Prototypen unter Laborbedingungen getestet. Der ICCT schlussfolgert deshalb messerscharf, dass nicht die von der Autoindustrie immer wieder beschworenen technischen Schwierigkeiten der Grund dafür seien, dass immer noch solche Dreckschleudern produziert und zugelassen werden, vielmehr seien die Tests schlicht ungeeignet und würden die PKW nur einer Art Scheinprüfung unterzogen.
Vergleich und Zahlen sind zwar beeindruckend, aber in der Sache ist das alles keine große Neuigkeit. Das mag sich auch Bundesverkehrsminister Dobrindt gedacht haben, als er die Angelegenheit mit einem kurzen Statement vor laufenden Kameras abhakte, in dem er erneut an die Autoindustrie appellierte, die vorhandene Technik doch einzusetzen – und sich dabei die Gelegenheit nicht entgehen ließ, hervorzuheben, dass die Studie zeige, dass Dieseltechnik kein Auslaufmodell sei. Das war’s. Dem zuständigen Minister scheint die Wiederholung eines Appells an die Chefs von Volkswagen, Daimler, BMW etc. zu genügen, sie sollten doch, da sie ja über die Technik verfügten, bitte, bitte so nett sein, und sie jetzt auch mal einbauen lassen. Soviel Gelassenheit und Toleranz gegenüber Gesetzesbrechern erstaunt den unbefangenen Beobachter. Sonst sind die Mitglieder der CSU eher dafür bekannt, dass sie konditioniert wie ein pawlowscher Hund wild nach den geringsten Anlässen schnappen, um Gesetzesverschärfungen und härtere Strafen zu fordern. Gerade die PKW-Maut, ein Projekt, dem Herr Dobrindt sonderbarer Weise deutlich mehr Aufmerksamkeit widmet als dem VW-Skandal, speist sich offensichtlich aus dem Bedürfnis, ausländische Autofahrer dafür zu bestrafen, dass sie die schönen deutschen Autobahnen abnutzen. Dafür ist der vom gesunden Volksempfinden geleitete Minister auch gerne bereit, aus dem Staatsseckel noch etwas draufzulegen.
Bei allem Verständnis für die Belastungen, die mit seinem Amt verbunden sind und die ihn vielleicht davon abhalten mögen, allen Verkehrssünden mit gleichem Engagement entgegenzutreten, wirft die Studie dann doch eine Frage auf, die mit seinem Statement nicht abgetan ist: Ist es nicht eine der grundlegenden Aufgaben eines Verkehrsministers, dafür zu sorgen, dass gesetzlich vorgeschriebene Emmisionswerte in angemessener Weise überprüft und eingehalten werden? Und das muss heißen: in der Realität, auf den Straßen. Wem soll die Reduktion der Luftverschmutzung im Labor nützen? Die einen betrügen und lügen, dass sich die Balken biegen, und die, die das verhindern sollen, schreiben ihnen zur Kontrolle Tests vor, die ihre Produkte daraufhin überprüfen, ob sie passende Werte simulieren können? Angesichts der staatlichen Beihilfe zur Simulation der Legalität organisierter Kriminalität in der Autoindustrie bekommt die Rede vom postfaktischen Zeitalter, in dem wir angeblich leben, einen neuen Sinn. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass Regierung und Wirtschaft dieses Landes in dieses Zeitalter bereits eingetreten sind, lange bevor paranoide Wutbürger sich bei Pegida-Demonstrationen zusammenfanden und der AfD überraschende Wahlerfolge bescherten.
Und wie nahmen die anderen Parteien, die Presse und das Publikum den nachgerade niedlichen Appell des Ministers auf? Schweigen im Walde. Keine Empörung ob der Dreistigkeit eines unfähigen Ministers, keine kritischen Kommentare zu jahrelangen Versäumnissen und einer besonderen Art der Strafvereitelung im Amt, nicht der Ansatz zu einer Kampagne mit dem Ziel, diese CSU-Größe aus dem Ministerium zu jagen. Was haben sie nicht alles mit dem armen Wulf angestellt, nur weil der sich angeblich ein paar Reisen und Parties bezahlen ließ. Aber da ging es um persönliche Bereicherung. Bei Herrn Dobrindt geht es ums große Ganze. In anderen Ländern würde man angesichts eines ähnlichen Verhaltens eines Ministers mafiöse Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft wittern. Aber wozu sollte man dort, wo der oberste Lobbyist der Autoindustrie ein ehemaliger Verkehrsminister und ein CDU-Unionsfreund des amtierenden ist, der Mafia bedürfen. Solche haltlosen Verdächtigungen kann man getrost den Verschwörungstheoretikern überlassen. Herr Dobrindt braucht keine Bestechung, um das zu tun bzw. zu lassen, was er tut oder eben nicht. Er handelt aus Überzeugung und als Staatsmann. Das ist viel schlimmer.
Die Autoindustrie ist die bei Weitem größte und bedeutendste Industrie des Exportweltmeisters Deutschland. Ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit und ihre Profitmargen aufrechtzuerhalten, gehört unmittelbar zur deutschen Staasträson. Wenn sie sich dabei unlauterer Methoden bedient, darf man nicht allzu kleinlich sein und muss sie auch dabei noch schützen und unterstützen, so lange das möglich ist. Denn darüber, dass die Autokonzerne „to big to fail“ sind, herrscht parteiübergreifender und die gesamte Gesellschaft nachgerade zur Volksgemeinschaft zusammenschließender Konsens. Nörgler und Kritikaster sind da unerwünscht. Ein SPD- Minister würde sich nicht sehr viel anders verhalten als Herr Dobrindt. Er würde vielleicht nicht ganz so gelassen reagieren. Er würde bestimmt den Empörten geben, sich über Fehlentscheidungen des Managements aufregen, die in the long run Arbeitsplätze gefährden könnten und große Sprüche klopfen, dass er ihnen jetzt aber mal zeigen werde, wo der Hammer hängt. Das Maulheldentum gehört nunmal gewissermaßen zur DNA eines SPD-Funktionärs. Praktisch würde er jedoch die Angelegenheit genauso verschleppen wie der CSU-Kollege. Die Autofirmen mitsamt ihren Zulieferern sind schließlich die wichtigsten Arbeitgeber und die SPD hat sie wie CDU und FDP über Jahrzehnte gehätschelt und getätschelt und zu dem hochgepeppelt, was sie heute sind. Zwar freuen sich die letzteren eher über die Profite, die sich in dieser Branche erwirtschaften lassen, während erstere Arbeitsplätze für die schönsten Plätze in Deutschland halten, aber letztendlich läuft beides auf eins hinaus, nämlich darauf, dass die ansässige Autoindustrie um jeden Preis zu erhalten und hier zu halten ist.
Dieser Preis war noch nie niedrig. Gesetzesverstöße, Betrug und der Verzicht auf Entschädigungen für getäuschte Autokäufer zählen da eher zu den peanuts. Ganz andere Dimensionen hat der Beitrag, den das Treibhausgas Stickoxid und der andere Dreck, der aus dem Auspuff strömt, zu Klimawandel, Smog und Luftverschmutzung leistet. Aber solche Folgen der Massenproduktion von Autos scheinen immer noch verhältnismäßig abstrakt. Unmittelbarer wirken da schon eher die Gefahren, die Forscher in der Feinstaubbelastung sehen. Sie wird für den frühzeitigen Tod von etwa an die 7000 Menschen in der BRD verantwortlich gemacht – jährlich. Genaue Zahlen zu ermitteln und die Verursachung klar zuzuordnen, ist allerdings wegen des Zusammenspiels vielfältiger Faktoren bei der Luftverschmutzung kaum möglich. Dass jedoch Tausende deshalb erkranken und sterben, davon ist auszugehen. Ganz handfest und eindeutig wird es erst bei der amtlichen Unfallstatistik. Unter der euphemistischen Überschrift „1. Halbjahr 2016: 9% weniger Verkehrstote im Straßenverkehr“ listet das Statistische Bundesamt 1450 Tote, 183370 Verletzte, 1247546 polizeilich erfasste Unfälle auf. Trotzdem lässt sich in der BRD nicht einmal eine generelle Geschwindigkeitsbeschränkung durchsetzen, wie sie in anderen Staaten längst übliche Praxis ist. Denn hierzulande gilt der dümmliche Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ als oberstes Gebot. Schließlich müssen die Luxuskarossen und Boliden mit ihren überdimensionierten Motoren ausgefahren und ausgetestet werden können.
Dafür dass die Autoindustrie floriert nimmt man auch gerne in Kauf, dass die gesamte Landschaft zuasphaltiert wird und man dennoch im täglichen Stau kaum vorwärts kommt, und man, allen Widrigkeiten zum Trotz glücklich am Zielort angekommen, keinen Parkplatz findet. Ohne Murren wird ebenso hingenommen, dass im Gegenzug, da die vielen Autobahnen schon eine Menge Geld kosten, der Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel sträflich vernachlässigt wird. All das sind Opfer, die neben ständig steigenden Versicherungsprämien, Treibstoffkosten und KFZ-Steuern für die individuelle Bewegungsfreiheit, die das Auto angeblich bietet, gebracht werden.
Massenproduktion und Massenkonsum führen jedoch die Behauptung von der Freiheit der Mobilität ad absurdum. Jeder Autofahrer kann im täglichen Verkehrschaos die Erfahrung machen, dass das Auto das anstrengenste, unbequemste, unzuverlässigste, langsamste, dreckigste und gefährlichste aller Verkehrsmittel ist. Für den Transport von Massen von Menschen und Gütern über größere Entfernungen ist es denkbar ungeeignet. Um sie dann im Nahbereich zu verteilen, sind Busse und LKW sicher unverzichtbar, auch werden PKW als Taxis oder Mietwagen oder für Krankentransporte und ähnliches gebraucht. Aber der klassische private PKW für die Familie oder gar Einzelpersonen ist ebenso wie der Einsatz von LKW im Fernverkehr nicht nur überflüssig, sondern gar der massenhaften, individuellen Mobilität hinderlich. Die könnte mit einem gut ausgebauten Netz von öffentlichen Verkehrsmitteln viel besser gewährleistet werden – wenn es denn so etwas gäbe.
Man wird darum wohl kaum einen Pendler finden, den nicht morgens, wenn er nur deshalb sein Auto besteigt, um zu seiner Arbeitsstelle zu fahren, weil die öffentliche Verkehranbindung so grottenschlecht ist, dass er quasi gezwungen ist, einen eigenen PKW anzuschaffen und zu nutzen, das Gefühl beschleicht, dass es doch das Beste wäre, er könnte das Ding zu Hause in der Garage stehenlassen. Der Wunsch sagt eigentlich alles über das Verkehrswesen, das diese Gesellschaft favorisiert. Würden ihn sich die Privateigentümer von PKW tatsächlich erfüllen (können), wäre, so könnte man auf einen ersten Blick meinen, allen gedient. Denn die Autoindustrie ist eigentlich nur daran interessiert, dass ihr ihre Produkte abgekauft werden, ob die dann von den Käufern genutzt werden können, kann ihr tendenziell egal sein. Aber der Deutsche, der sein liebstes Kind hegt und pflegt, es möglichst geschützt in der Garage bewahrt und nur samtags herausholt, um es zu waschen und der Nachbarschaft vorzuführen, was er sich leisten kann, kann ihr trotzdem nicht recht sein. Zum einen verschleißen die Dinger im Betrieb schneller und lässt sich mit den ständig nötigen Wartungen noch jede Menge Geld zusätzlich verdienen. Auch haben die vielen Unfälle in diesem Zusammenhang die äußerst vorteilhafte Funktion, mittels schöpferischer Zerstörung den Absatz zu heben. Zum anderen ist das hochentwickelte Verkehrchaos am Produktionsstandort Deutschland als Testfeld und Innovationsraum unverzichtbar. Was sich hier bewährt, kann auch im internationalen Maßstab mit den Produkten der anderen mithalten. Das hat dann auch zur Folge, dass, um der sich andauernd erweiternden Nutzung Herr zu werden und sie noch irgendwie aufrechtzuerhalten, die Verkehrsregeln beständig ausgeweitet und verschärft werden müssen und mit zunehmender rechtlicher, staatlicher Restriktion der Gebrauch und damit die verhießene indivuelle Mobilität weiter beschränkt wird. Ein Teufelskreis!
Nützlich sind die kraftstrotzenden Stinker nicht an sich, sondern nur unter den katastrophalen Bedingungen einer vollkommen verrückten Verkehrsinfrastruktur, die ihrerseits unterm Konkurrenzdruck der hiesigen Automobilindustrie die Fortentwicklung ihrer Produkte aufzwingt, damit weiter die Profite fließen. Aus dieser Perspektive gesehen sind die Kosten, Unannehmlichkeiten und Gefahren, die die Individuen auf sich nehmen, ebenso wie der gesellschaftliche Aufwand der zugunsten des Individualverkehrs betrieben wird, Opfer, die den zum Gemeinwohl erhobenen Privatinteressen der Automobilkonzerne gebracht werden. All die Verkehrstoten sind Helden, gefallen an der Wirtschaftsfront im Kampf dafür, dass die längst international agierenden und organisierten Unternehmen an ihrem bisherigen Standort weiterhin günstige Produktionsbedingungen vorfinden, damit die Verwertung des Wertes voranschreiten kann.
So bekommt die Rede vom Kampf der Gewerkschaften, die deren Bosse so gerne im Munde führen, ihren Sinn. Man braucht schon viel Phantasie um ihre Paktiererei mit dem Kapital und das bisschen Streik für unmaßgebliche Lohnerhöhungen, den sie in dem Notfall verordnen, in dem sie nicht gleich mit ihren vermeintlichen Gegnern zu einer Einigung kommen, Kampf zu nennen. Der findet woanders statt. Weil die von ihnen angeführten Produzenten jeden Kampf gegen das Kapital und seine Agenten um eine selbstbestimmte, bedarfs- und gebrauchswertorientierte Produktion scheuen wie der Teufel das Weihwasser, müssen sie in ihrer Rolle als Konsumenten für es kämpfen und leiden. Das schlechte Leben, das sie führen, ist noch nicht schlecht genug, es gibt immer noch ein schlechteres irgendwo anders auf der Welt – das hält sie bei der Stange. Bevor sie den sprichwörtlichen Spatz in ihrer Hand loslassen, um der vermeintlichen Taube auf dem Dach nachzujagen, die ihnen viel näher ist, als ihnen täglich suggeriert wird, machen sie sich lieber zu Komplizen universaler, globaler Ausbeutung und wenden sich nicht gegen das sie ausbeutende Kapital, sondern gegen seine anderen Opfer, die, wie sie, auch nur einen Brosamen abhaben wollen.
Man darf die Konstitution eines großen nationalen „Wir“ über Klassengrenzen hinweg getrost als Erfolg der SPD und ihres Reformismus sowie der Gewerkschaften mit ihrer Ausrichtung auf Sozialpartnerschaft verbuchen. Aber ihre Zeit ist, weil sie so erfolgreich waren, vorbei. Das von ihnen geschaffene „Wir“ projeziert seine Aggression, die die von der Einheitsfront fürs Kapital nur kaschierte Ausbeutung und Unterdrückung erregt, nach außen, und die Profiteure der modernen Version der Volksgemeinschaft haben jetzt, da sie eine konsolidierte Form gefunden hat, andere Probleme. Der durchs kapitalistische Produktionsverhältnis gesetzte Klassenantagonismus, der in der Produktionssphäre nicht mehr ausgetragen wird, verschiebt sich seiner Erscheinungsform nach in die Konsumtionssphäre. Die Soldaten wollen nicht nur ihren Sold, relativ sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze, sie wollen auch etwas davon haben. Die Produkte, die sie konsumieren und zu denen inzwischen auch so basale Dinge wie Luft und Wasser, aber eben auch angesichts der ihnen abverlangten Mobilität geeignete Verkehrsmittel gehören, sollen von genießbarer Qualität sein. Sie wollen ein „gutes Leben“ führen, und das bedeutet unter Wettbewerbsbedingungen: ein besseres als die anderen. Damit rückt die um sich greifende Umweltverschmutzung, eine notwenige Folge der kapitalistischen Produktionsweise, für die sie kämpfen, in ihr Blickfeld. Die Sozialpartnerschaft zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten reicht nicht, ihr Zusammenschluss braucht auch eine mit der Natur. Mit deren selbsternannten Vertretern gilt es also jetzt die neuen Koalitionen zu schmieden. Ob das Vertretungsprinzip hier greifen kann, bleibe an dieser Stelle mal dahingestellt, denn schließlich hat die Natur anders als die Arbeitskräfte keinen Willen, den sie beugen könnte.
Schwarz-Grün heißt also die Option der Zukunft. Dieser Meinung ist zumindest die Journallie. Vor noch nicht allzu langer Zeit sendete der Deutschlandfunk einen Presseclub, der den anstehenden Wahlen und ihren möglichen Ergebnissen gewidmet war. Auf die Frage, was für ein Resultat bei der Bundestagswahl das beste für Deutschland wäre, waren sich alle zur Kaffeesatzleserei eingeladenen Journalisten, die doch zumindest einen Ausschnitt aus der vielgerühmten pluralen Pressekultur der BRD repräsentieren sollten, sich völlig einig, dass es nur eine schwarz-grüne Regierungskoalition richten könne. Da wurde es gar dem Moderator unwohl, der bemerkte, dass so viel Einigkeit unter der Presse wieder dem Verdacht Nahrung geben müsse, dass die öffentliche Meinung manipuliert werden solle.
Schwarz-Grün ist für sich genommen bereits ein Zukunftsprogramm. Die Farbkonstellation sagt alles. Es braucht keine ausführlichen Wahlprogramme, um zu verstehen, worum es geht. Die unerquickliche Lektüre kann man sich sparen. Schwarz, die Farbe des Konservativmus, symbolisiert, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Grün steht für den ökologischen Umbau des Produktionsapparates der Gesellschaft. Ihre Kombination bedeutet, dass dieser Umbau im Rahmen der existierenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse vor sich gehen und so gestaltet werden muss, dass sie nicht nur dadurch nicht in Frage gestellt, sondern gar noch gefestigt und gefördert werden. Ein Vorbild dafür gibt es schon – in Baden-Württemberg. Dort entsteht gerade, geht es nach dem Willen des Landesvaters Winfried Kretschmann, Cyber Valley, das schwäbische Gegenstück zum kalifornischen Silicon Valley. Cyber Valley ist der Name für einen Forschungsverbund der Max-Planck-Institute für intelligente Systeme in Stuttgart und Tübingen, dem Land Baden-Württemberg, Porsche, ZF Friedrichshafen, einer Firma für Antriebs- und Fahrtechnik und drittgrößter deutscher Autozulieferer, Daimler, BMW und sogar Facebook. Forschungen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz sollen nicht nur für die Autoindustrie nutzbar gemacht werden, sondern die Nutzbarmachung für die Autoindustrie soll umgekehrt ihrerseits die Entwicklung von Systemen künstlicher Intelligenz fördern. Oder anders ausgedrückt, der technische Vorsprung der deutschen Auto- und Maschinenbauindustrie soll den Ausbau der hiesigen Computerindustrie stützen, auf dass die in Zukunft auch einmal mit Silicon Valley konkurrieren könne. So gibt Winfried Kretschmann in seiner Rede zum Start von Cyber Valley das Ziel vor, in der Championsleague der Computertechnologie mitspielen zu wollen. Man habe die erste Halbzeit, das Spiel um Kommunikations- und Unterhaltungselekronik verloren, aber die zweite Halbzeit, den Wettkampf um den modernen Auto- und Maschinenbau werde man gewinnen. Das glaubt der Ministerpräsident garantieren zu können.
Aber wozu soll das autonome Auto gut sein? Oder genauer: Cui bono – Wem soll es nützen? Dem Kunden wohl kaum. Der wird in Zukunft sein privates Taxi kaufen. Es ist sicher bequem, sich herumkutschieren zu lassen. Aber wenn das als angenehm empfunden wird, dann doch nur, weil selbst zu fahren, zur Tortur geworden ist. Die Zielvorgabe, selbstfahrende Autos zu entwicklen, bestätigt nur die bisherige Analyse subjektiver Unzufriedenheit. Immanuel Kant leitete noch das Rechtsinstitut des Privateigentums als soziale Bedingung der Möglichkeit her, einen äußeren Gegenstand zum Gegenstand eigener Willkür zu machen. Beim autonomen Auto spielt die individuelle Willkür höchstens noch bei der Auswahl des Fahrtzieles eine Rolle, nicht mehr beim Gebrauch. Man kann es auch so fassen: Die Privatkunden werden durch ihren Kauf enteignet. Die Verkehrsregeln und das Verhalten im Straßenverkehr werden in Form von Software in die Maschine eingebaut und ihr privater Gebrauch so fast vollständig den allgemeinen Bedingungen unterworfen. Die Automatisierung der Produktion wird ergänzt und vervollständigt durch die Automatisierung der Konsumtion.
Nun spricht nichts grundsätzlich gegen den Fortschritt der Automatisierung und die Vergesellschaftung der Verkehrsmittel. Aber hier geht es darum den Konsum de facto zu vergesellschaften, um de jure das Privateigentum, und zwar vorrangig das an den Produktionsmitteln aufrechtzuerhalten. Damit weiter PKW in großen und immer weiter wachsenden Mengen produziert werden können und der in ihnen vergegenständlichte Mehrwert auch realisiert werden kann, muss der so generierte Massenverkehr von allen Störungen, die von den unberechenbaren Individuen verursacht werden können, entschlackt und so verflüssigt werden. Die Dinger sollen deshalb vor allem in Kolonnen fahren können. Die Blechlawinen sollen also nicht beseitigt, sondern die Bedingungen für noch größere geschaffen werden. Was für ein Irrsinn!
Die rein technische Fortentwicklung der bestehenden Produktionform dient weder den Produzenten, noch den Konsumenten, sondern allein den Investoren. Die schießen weiteres Kapital zu, damit das bereits angelegte nicht entwertet wird. Aber der Zuschuss neuen Kapitals soll das bereits vorgeschossene nicht einfach erhalten, vielmehr bedeutet kapitalistischer Logik zufolge Erhaltung, dass sich das Kapital weiter verwerten können lassen muss. Die Modernisierung der Maschinerie, in die die Investoren ihr Geld anlegen, muss ihnen auch in Zukunft Profite einbringen. Die Maschinen sind ihr zu gegenständlicher Realität gewordener Anspruch auf zukünftige Ausbeutung. Wenn Herr Kretschmann also stolz verkündet: „Wir schrauben die Intelligenz an unsere materielle Welt“, dann ist damit gemeint: Wir schrauben die neue Technik mit all ihrem Potential, mit ihrer Hilfe die Gesellschaft vernünftiger einzurichten, in den alten Schraubstock der Verwertungslogik ein, fangen auch die neuen Produktivkräfte, die die Mühseligkeiten der menschlichen Existenz erleichtern könnten, ein, subsumieren auch sie dem Kapital und verwandeln sie so in Destruktivkräfte, in Einsauger lebendiger Arbeit, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass so die Naturzerstörung munter weitergeht.
Zwar könnte ein öffentlicher Verkehr, der diesen Namen verdiente, den reinen Mobilitätswunsch, von A nach B zu kommen, gesamtgesellschaftlich betrachtet weit effektiver und ökonomischer erfüllen als der selbstfahrende private PKW, aber dazu müssten zuerst die Produktionsmittel vergesellschaftet werden. Der ökologische Umbau des Produktionsapparates, den die Grünen propagieren, kann nur gelingen, wenn ihm ein sozialer Umbau vorangeht. Die vielgescholtenen Fundis, die in ihren Anfängen die Umweltbewegung antrieben, hatten von diesem Zusammenhang noch eine Ahnung. Von ihnen wurde die grüne Partei, die aus ihr entstand, gesäubert, um das zu erlangen, was man Regierungsfähigkeit nennt. Was sie intendierten, gilt Herrn Kretschmann heute als „linke Verirrung“, der er auch einmal erlag. Nun ist er an der Regierung und weiß nicht mehr, wie und warum er da hingekommen ist.
Und die Moral von der Geschicht‘: Sowohl Herr Dobrindt als auch Herr Kretschmann versagen vollständig als Vertreter des Gemeinwesens. Genau das qualifiziert sie für ihr Amt – und für eine baldige gedeihliche Zusammenarbeit.