Die realistische Kistenrede

Speakers Corner in Köln revisited

Das Wichtigste in dieser Welt ist der Realismus1. Sei, wer du bist. Sei, wie du bist. Und wehe, wenn nicht. In Köln führt dieser Realismus heuer zu demokratischer Nostalgie in Form von Rednerveranstaltungen im Park (https://www.youtube.com/channel/UCFhVdn_Ih0gbwbbq70UJzZQ). Auch im Namen von Diem25 treten dort Menschen jeglicher Couleur auf: Krankenschwestern, die ganz realistisch nichts gegen Flüchtlinge sagen wollen, Verkäuferinnen, die die Vögel und die Umwelt lieben, Spaßparteimitglieder, die gar nichts lieben. Oder Alles. Wie legitimieren diese vielen Stimmen ihren Gesang?

Der Realismus liest den Habitus: junge, (un-)zufriedene Fast-Blogger. Verpasste, aber betroffene Poetry-Slammer mit Anker-Tattoos.

Die Poesie ist auf der Spur: zerbrochener Überschuss der Präpostpostmoderne in hoffnungsvoller Verzweiflung.

Die Fragen: Warum sind wir so unglücklich? Was hat das System damit zu tun? Wen kann man noch wählen? Wie werden wir wieder glücklich? Wie bleibt Ich Ich?

Der Chor legitimiert sich in einem kritischen Impetus. Subversiv, bei den Menschen, soll es sein. Diesmal aber nicht vom Parteioberhaupt, vom Guru, vom Messias aus. Die Demokratie der Unmittelbarkeit braucht keine Propaganda mehr, sie ist so frei und tut es selbst. So wie sie ist.

Und so wird unmittelbar heraus geredet, ohne Vorbereitung, dafür mit Kommunikationstrainingseinheiten, die scheinbar mit der Muttermilch schon aufgesogen wurden (Stillen ist für den Realismus alles!). Alles im Jetzt, alles kreativ. Der doppelt flexibilisierte Arbeiter – wären die Menschen nicht so heillos sehnsüchtig, es wäre ein leichtes, sie nicht ernst zu nehmen. Doch obwohl alles Leid des Kapitalismus masochistisch ins eigene Gewissen verlegt wird, das sich zum falschen Essen bekennen muss, während es das Vertrauen am Lagerfeuer beschwört, beklagt dieses Ich auch die Arbeitsideologie, erahnt dieses Nicht-Ich, dieser Überschuss, seine Gebrochenheit: „Vor lauter Arbeit haben wir keine Zeit für uns, keine Gedanken zu verschwenden über unser Zusammenleben, keine Erfahrung von Vertrauen und Freundschaft, die einmal nichts bringen muss.“ Während die Sehnsucht sich immer wieder Bahn bricht, wäscht der Hippiemanagertalk in kreativen Wischtechniken jede Spannung alsbald hinfort: geht raus, erlebt die Natur, seid nett und sagt mal Danke. Ach und übrigens: Flüchtlinge können euch im Krankenhaus nicht so gut gesund pflegen wie ‚wir‘!

Während also Überpersönlichkeit erhofft wird, gibt die Kiste (neumodisch natürlich ersetzt durch zwei gestapelte Europaletten), auf der man im Park steht, nicht jene Passung von Form und Inhalt her, die einer distanzierten Nähe Ausdruck verleihen könnte. Zu possierlich die Dekoration der Bühne („Frieden“, „Liebe“ und „saubere Luft“ auf Papptellern als Girlande verewigt), zu angenehm-lieblos-vorüberziehend die elektronische Musik zwischen den Rednern. Und so steht am vorläufigen Ende doch nur wieder das Mehr-Genießen, selten aber tanzt das gebende Begehren, und die Sprache ordnet alle Widersprüche bis man die Liebe predigen kann, als seien Menschen die Liebenswürdigkeit in Person.

Wie aber auch in dieser Sprache der Kälte ohne Härte der vergesellschafteten Natur begegnen? Wie ohne deutsche Romantik erste und zweite Natur in ihrer Vermittlung in Sprache erleben? Wie Colorationen ohne Rückhalt erfahren, ohne sie und alle Anderen in Identität einzupferchen? Und wie andere Öffentlichkeit für politische Diskussion errichten? Ein nicht nationales, demokratisiertes Europa kann nicht entstehen ohne Widerspruch, ohne Natürlichkeit, die untrennbar in eins fällt mit ihrer Kultivierung (in Form von Rechten und Institutionen). Es kann aber auch nicht dort sein, wo der Versuch einer Vermittlung zwischen erster und zweiter Natur sich in Herrschaft verselbständigt, ob nun in bürokratisch-maschinellen Hyperinstitutionen oder niedrigschwelliger Verbrüderung im Park. Die Sehnsucht nach sachlicher Individualität darf die Sprengkraft eben selbiger nicht in allzu schneller Befriedigung durch Alltagsverherrlichung des Ichs auflösen.

Währenddessen jedoch übersetzt die Imagination: In der Lücke steht die Rednerin Kopf. Während das Subjekt der Sprache zärtlich-zornig im Nicht Subjekt prozessiert, balanciert das Wozu auf äußerster Differenzfingerspitze solange, bis aus diesem Balanceakt der Begriff herausfällt. Für einen Moment darf das Subjekt als Verobjektivierung sterben, alles Leben bestätigend im Tod der symbolischen Abstraktion, nur um wurmlochartig in eben diesem Moment alles tödliche Leben zu beginnen, das einen Anfang hat, den es nie entdecken wird. Diese Bewegung könnten die Geister rufen, die geben können, ohne zu nehmen und die doch Geister der Begebenheit bleiben müssen, um dem, der nehmen will, nicht ausgeliefert zu sein. So schillerte die Sehnsucht nach anderer Arbeit, nach anderer Liebe, nach anderer Freundschaft vielleicht länger, als es den Kistenrednern geheuer ist – ohne dabei das un-mögliche Leben in Affirmation zu ersticken. Man könnte der Anti-Intellektualität fast dankbar sein, dass sie so viel Zorn evoziert. Nur – kann die Gegen-Imagination eine utopische Erfahrung sein oder bleibt sie ein niedergerungener Traum?

1Der radikalste Realismus verbietet es diesem Text, eindeutige Zitat-Personen-Zuordnungen im Sinne der empirischen Exaktheit zu vollziehen.

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