Zum Urteil des Bundesverfassungsgericht zu den Sanktionsregelungen in den Hartz-Gesetzen
Das Bundesverfassungsgericht hat gesprochen. Wie so oft hat es ein klares Urteil vermieden und sich differenziert und verschiedene Rechtsgüter abwägend auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zurückgezogen. Es hat die Sanktionierung von Hartz-IV-Empfängern, die nicht angemessen mit ihrer Arbeitsagentur kooperieren, von über 30% des Regelsatzes ebenso wie den gesetzlich vorgeschriebenen Automatismus der Kürzungen sowie deren starre Dauer von stets 3 Monaten für nicht mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip vereinbar erklärt. Zugleich hat es die Sanktionspraxis als solche für verfassungsgemäß befunden. Ist das nun wirklich ein salomonischer Richterspruch? Man könnte es meinen, wenn man die Reaktionen darauf betrachtet. Wie immer fühlen sich alle Seiten bestätigt. Aber gerade in diesem Fall wirkt die gewohnte Vereinnahmung des höchsten Gerichts für die je eigenen politischen Zwecke so verstörend wie selten zuvor.
Hubertus Heil, der Bundesarbeitsminister von der SPD, sieht in dem Urteil eine „Riesenchance“, den gesellschaftlichen Konflikt um die Hartz-Gesetzgebung endlich zu befrieden. Ihm gehe es darum, den Ton des Sozialstaats zu verändern: „Dass wir mehr ermutigen und wo immer es geht, Menschen aus der Hilfebedürftigkeit rausführen“. Solch hehre Ziele hatten ihn allerdings nicht davon abgehalten, noch bei der Verhandlung die Leistungskürzungen zu verteidigen: „Der Sozialstaat muss ein Mittel haben, die zumutbare Mitwirkung auch verbindlich einzufordern“. Das sei mit Blick auf die Gemeinschaft und insbesondere die Steuerzahler geboten. Die Grünen geben sich noch radikaler, sie wollen nun zusammen mit den Linken die Sanktionen ganz abschaffen. Aber waren SPD und Grüne nicht gerade die Parteien, die die Hartz-Gesetze vorschlugen und durch den Bundestag brachten? Warum haben sie das getan, wenn es ihnen nur um Ermutigung und Hilfe, nicht aber um Bestrafung ging? Und selbst wenn man ihnen zugesteht, dass Irren menschlich ist und jeder mal einen Fehler macht: Warum haben sie ihn in den 14 Jahren seit Einführung von Hartz IV nicht korrigiert? Warum müssen sie, die Gesetzgeber und politisch Verantwortlichen, dazu vom höchsten Gericht verdonnert werden? Etwa weil die politische Konstellation es schon bald nach der Parlamentsentscheidung nicht mehr zuließ? Weil sie mit der Agenda 2010 nur verabschiedet hatten, was CDU und FDP sich wünschten und die, nachdem die Gesetze erst einmal beschlossene Sache waren, Änderungen am Sanktionsregime mit allen Mitteln verhinderten? Wäre das Urteil dann nicht die Gelegenheit, jetzt endlich zuzugeben, dass zumindest die in den Hartz-Gesetzen vorgeschriebene Bestrafung von kooperationsunwilligen Leistungsempfängern – vielleicht die gesamte Agenda – ein kapitaler politischer Fehler war, dass man damit nur die neoliberale Politik forcierte, die eigentlich Sache von CDU und FDP ist?
Aber auch diese Parteien sehen sich durch das Urteil bestätigt. „Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen im Bereich des Arbeitslosengelds II insgesamt nicht in Frage stellt“, sagt Unionsfraktionsvize Hermann Gröhe der „Rheinischen Post“ und sein Parteifreund, der CDU-Arbeitsmarktexperte Peter Weiß, zieht schon mal den Schluss: „Eine sogenannte Totalrevision des Arbeitslosengeldes II ist nach dem heutigen Urteil nicht angezeigt.“
Ist den Vertretern all dieser Parteien entgangen, dass ihnen gerade das höchste Gericht der BRD attestierte, für eine 14jährige Praxis schwerwiegender, systematischer Menschenrechtsverstöße verantwortlich zu sein? Haben Sie vergessen, dass aus ihren Reihen von Anfang an Stimmung gegen vermeintliche Sozialschmarotzer gemacht wurde, um eine Diskussion über das Unrecht, das sie in Gesetzesform gegossen haben, zu unterdrücken?
Aber auch das Bundesverfassungsgericht selbst ist Teil dieser Praxis und sein Urteil von deren Widersprüchlichkeit bestimmt. Das lässt sich schon am langwierigen Verlauf der ganzen Angelegenheit ablesen. Bereits 2010 hat das Gericht die Hartz IV-Sätze korrigiert, weil sie das menschenwürdige Existenzminimum, das der Sozialstaat zu gewährleisten habe, unterschritten. Bereits 2015 urteilte daraufhin das Sozialgericht Gotha, dass bei einer Kürzung von 60% eben dieses zu gewährende Existenzminimum nicht mehr gesichert sei und legte den ihm vorliegenden Fall dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor. Vier Jahre ließ das sich dann aber Zeit, um darüber zu befinden – so viel Achtung verdienen hierzulande die Ärmsten der Armen. Als es endlich sein Urteil fällte, knüpfte es daran jedoch wiederum eine Übergangsregelung, die mit sofortiger Wirkung alle Kürzungsbescheide über 30% für unrechtmäßig erklärt. Ist also die Angelegenheit doch so dringlich und so gravierend, dass man nicht warten kann, bis sie der Gesetzgeber neu regelt?
Aber auch inhaltlich wirft das Urteil Fragen auf. Denn grundsätzlich sollen Sanktionen ja erlaubt und Kürzungen von 10% bei sogenannten Meldevergehen und von 30% bei Ablehnung von Jobangeboten oder Maßnahmen der Agenturen möglich sein und bleiben. Was ist also dem juristischen Verstande zufolge ein Existenzminimum, wenn es – auch nur temporär – gekürzt werden darf? Wovon leben die von solchen Minimierungen des Minimums Betroffenen in dieser Zeit – auch wenn sie vielleicht nur noch 2 statt 3 Monate dauert? Das muss wohl das Geheimnis der Richter bleiben. Vielleicht versuchen sie es einfach mal mit Fasten. Das soll ja gesund sein.
Trotzdem sind die Verfassungsrichter alles andere als weltfremd, im Gegensatz zu all denjenigen, die glauben, was alle Menschenrechtserklärungen und auch das Grundgesetz behaupten, dass nämlich Menschen- bzw. Grundrechte angeboren und unveräußerlich und alle Staatsgewalten an sie gebunden seien. Die Richter hingegen halten sich nicht nur an abstrakte Rechtssätze, sondern wissen sehr wohl, dass ihre Aufgabe in ihrer Auslegung besteht und die die historische Entwicklung des Rechts, vor allem jedoch den gesellschaftlichen Rahmen, in den seine vermeintlich unbedingten Grundsätze eingebettet sind, zu berücksichtigen hat.
Dieser Rahmen ist bestimmt durch kapitalistische Produktionsverhältnisse. Deren Besonderheit besteht gerade darin, dass sie unmittelbare Herrschaftsverhältnisse, in denen die Herren unter direkter Gewaltandrohung ihre Knechte zur Arbeit antreiben, durch einen stummen ökonomischen Arbeitszwang ersetzen. Der moderne Lohnarbeiter ist bekanntlich im doppelten Sinne frei, nicht mehr eingepfercht in persönliche Abhängigkeit, aber auch getrennt von allen Produktionsmitteln, die einige wenige alte und neue Herren unterm Titel des Privateigentums monopolisiert haben. Will er überleben, muss er das einzige, was ihm noch bleibt, seine Arbeitskraft, als Ware an Unternehmen verkaufen, deren Profite sich aus der Differenz des Werts der Arbeitskraft und den Werten, die ihre produktive Anwendung hervorbringt, speisen. Der pure Rechtsstaat, dessen Herzstück die Menschenrechte ausmachen, garantiert nur den freien Tausch zwischen Arbeitskraft- und Produktionsmittelbesitzer. Das Verhältnis selbst ist seine Voraussetzung, er greift nicht in es ein. Dementsprechend bekümmert er – zumindest der grauen Theorie zufolge – sich auch nicht darum, ob der Tausch zustande kommt, nicht darum, ob es den Besitzern der Arbeitskraft gelingt, ihre Ware loszuschlagen bzw. um die existentielle Notlage, in die sie geraten, wenn es ihnen nicht gelingt.
Solche Gleichgültigkeit des Rechtsstaats birgt allerdings große Gefahren in Form sozialer Unruhen, nicht nur für den Staat, sondern vor allem auch für die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, auf denen er aufgebaut und von deren Aufrechterhaltung auch er abhängig ist. Im gesamtgesellschaftlichen Interesse an der Profitmacherei muss er sich im Laufe der Entwicklung der modernen Industriegesellschaften zum Sozialstaat weiterentwickeln und die Arbeitskraftbesitzer gegen die größten Risiken einigermaßen absichern. Er gerät so in Widerspruch zu sich selbst als reinem Rechtsstaat, aus dem der Sozialstaat hervorgegangen ist und dessen Form er beibehält, und zu den Produktionsverhältnissen. Zur Garantie der Menschenwürde zählt nun auch die eines Existenzminimums in Notlagen, wodurch der sachlich vermittelte gesellschaftliche Arbeitszwang partiell eingeschränkt wird.
Die Hartz-Gesetzgebung stellt sich dergestalt in historischer Perspektive als Einschränkung einer Einschränkung des gesellschaftlichen Zwangsmechanismus dar. Der gesellschaftliche Antagonismus wird auf staatlicher Ebene reproduziert und strukturiert nun die Gesetzgebung. Hat der Staat zu besseren, früheren Zeiten im gesamtgesellschaftlichen Interesse an der Aufrechterhaltung kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf Seiten der Arbeitnehmer eingegriffen, so hat er diesen Eingriff durch einen zweiten Eingriff in schlechteren Zeiten zu Beginn der 2000er Jahre zugunsten der notleidenden Arbeitgeber entschärft, um dem Fall ihrer Profitrate entgegenzuwirken. Der Interventionsstaat, einmal eingeführt, muss nun gewissermaßen den gesellschaftlichen Druck auf die Arbeitskraftbesitzer, ihr Arbeitsvermögen ihren Anwendern bereitzustellen, simulieren und der nimmt deshalb die Form der Strafe an. Der enge Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Zwangsverhältnissen und staatlicher Repression tritt in aller Deutlichkeit hervor und der vermeintlich neutrale Staat bewährt sich als das, was er immer schon war, als Staat des Kapitals.
Man hat die Agendapolitik und viele weitere Maßnahmen der verschiedenen Regierungen seit Schröder als neoliberal kritisiert. Als großangelegtes Programm, die gesellschaftliche Arbeitskraft zu mobilisieren, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt anzuheizen und die Löhne zu drücken, entspricht sie durchaus dem, was landläufig darunter verstanden wird. Es ist jedoch verfehlt, daran die Klage zu knüpfen, die soziale Uhr würde zurückgedreht und der Arbeitsmarkt dereguliert. Das Gegenteil ist der Fall. Die Neoliberalen unterscheiden sich von ihren liberalen Vorgängern insofern, als sie bei der Reorganisation vor allem der Arbeitsmärkte ganz bewusst auf den einmal entstandenen Interventionsstaat setzen. Sie wissen, dass die kapitalistische Produktionsweise staatlicher Unterstützung bedarf und treiben die kapitalistische Zwangsvergesellschaftung politisch voran. Dazu werfen sie gerne auch alle liberalen Grundsätze über Bord. Stephan Lessenich hat deshalb schon in Bezug auf die Hartz-Reformen geurteilt, dass es irreführend sei, sie als neoliberal zu bezeichnen. Zutreffender sei es, sie „neosozial“ zu nennen, – was wohl richtig ist, wenn mit „sozial“ in diesem Zusammenhang die kapitalistische Verfassung der Sozietät gemeint ist.
Was das heißt, zeigt auch das Urteil. Denn auch es bricht nicht mit der neosozialen Programmatik, es schreibt sie fort. Es verpflichtet den Gesetzgeber nur dazu, genauer zwischen tatsächlich Bedürftigen, also vielleicht auch nur temporär Arbeitsunfähigen, und Arbeitsunwilligen zu unterscheiden. Das können aber nur die Mitarbeiter in den Arbeitsagenturen vor Ort. Sie müssen den einzelnen Fall beurteilen und brauchen einen gewissen Entscheidungsspielraum. Ein gesetzlich vorgeschriebener Sanktionsmechanismus wirkt da kontraproduktiv. Und das Gericht stellt die Funktionalität der Kürzungen über 30% in Frage. Die könnten eher dazu geeignet sein, aus Arbeitsunwilligen Arbeitsunfähige zu machen. Deshalb waren die Richter bei der Verhandlung so erpicht darauf zu erfahren, zu welchen Ergebnissen die gesetzlich vorgeschriebenen Untersuchungen gekommen seien, anhand deren die Arbeitsagentur den Erfolg der Sanktionen überprüfen sollte. Bedauerlicherweise wurden solche Untersuchungen gar nicht oder nicht in ausreichendem Maße durchgeführt, sodass der auch für die Richter immer noch plausible, aber nur behauptete Kausalzusammenhang von Strafe und Verstärkung von Bemühungen um Arbeitsaufnahme nicht wissenschaftlich belegt werden konnte.
Die Richter haben daraufhin geurteilt, dass Zweifel an der Wirksamkeit von Kürzungen um 60 oder 100% angebracht sind. Es muss stattdessen genügen, den Kooperationsverweigerern die Folterinstrumente zu zeigen und ihren Lebensstandard eine Zeit lang um 30% unter das Existenzminimum zu drücken, mehr könnte die Arbeitskraft zerstören, die es vielmehr auszubeuten gilt. Denn, so stellt Herr Thome vom Verein Tacheles in einem SZ-Interview fest: „Ein Verfassungsrecht kann in der juristischen Argumentation eingeschränkt werden, wenn es einem hohen Ziel dient – in dem Fall also der hypothetischen Integration am Arbeitsmarkt. Genau das konnten die Sanktionsbefürworter nicht belegen.“ Und die Integration möglichst vieler zu möglichst ungünstigen Bedingungen in den Arbeitsmarkt dient wiederum der Verwertung des Kapitals. Genau dieses „hohe Ziel“ hat auch sein Staat zu verfolgen. Denn obwohl dieses Ziel in keiner Verfassung dieser Welt niedergeschrieben ist und eine klare Absage an jede liberale Rechtsauffassung beinhaltet, weil es brutal die Interessen der einzelnen unter das übergeordnete Herrschaftsinteresse an ihrer möglichst effizienten Vernutzung subsumiert, ist es doch das wirkliche Grundgesetz aller bürgerlichen Gesellschaften.
Die Richter orientierten sich allerdings anders als ihre parteipolitischen Vereinnahmer ganz nüchtern und pragmatisch nur an der Funktionalität staatlicher Maßnahmen, kein irrationales Strafbedürfnis leitete sie und sie unterstellten auch nicht, dass der Staat einen Erziehungsauftrag habe. Solche ideologischen Fehlinterpretationen überlassen sie dem Arbeitsminister, der das Sanktionsregime noch in der Verhandlung mit der steilen These verteidigte: „Zur Menschenwürde gehört auch, dass Menschen sich anstrengen.“ Schließlich gehört zu den unverbrüchlichen Glaubenssätzen der SPD, dass allein Arbeit adle, egal wie mühselig und unwürdig sie sei. Und wenn das die unmündigen Arbeitslosen nicht verstehen wollen, muss Vater Staat auch mal mit dem Rohrstock ran. Die Richter nehmen eine aristokratischere Haltung ein: Arbeit muss nun einmal gemacht werden – und das am besten von anderen.
Ein Nachtrag sei noch erlaubt: Der AfD-Abgeordnete René Springer kritisierte, das Urteil setze „unverantwortliche Anreize für die weitere Armutsmigration nach Deutschland“. Wenn es noch eines Beweises bedürfte, dass das Programm der AfD nur einen einzigen Inhalt hat, nämlich die Hetze gegen Migranten, dann würde er wohl mit dieser Aussage erbracht. Der menschliche Erfindungsreichtum ist schon erstaunlich. Was kann man nicht für abstruse Zusammenhänge konstruieren, um nur wieder einmal seinem Hass Ausdruck zu verleihen? Darauf würde wohl keiner kommen, der noch alle Tassen im Schrank hat. Aber Herr Springer ist zum Glück auch noch dumm genug, auszuplaudern, dass nach seiner Auffassung Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger nie hart genug sein können. Deshalb sei hier den AfD-Wählern unter ihnen ans Herz gelegt, sich den Satz ganz genau anzuschauen. Denn seine Botschaft ist: Dieser Arbeitslosenabschaum soll nur richtig schikaniert werden, Hauptsache Migranten werden abgeschreckt.