Der schlechte Ruf, der der Bürokratie als solcher anhaftet, ungemein schwerfällig zu sein, könnte sich den Erfahrungen verdanken, die alle schon in Kindheit und Jugend in der Schule machen müssen, wo sie in den prägenden Lebensphasen dem vielleicht unbeweglichsten Teil des Beamtenapparates ausgeliefert sind. Und auch in Zeiten der Coronakrise bewähren sich die Schulministerien als Fels in der Brandung. Dort wo nach heute propagierter Lehrmeinung maßgeblicher Bildungsforscher der flexible Mensch herangezogen werden soll, herrscht eine denkbar unflexible Verwaltung. Der ist es selbstverständlich unvorstellbar, die Abiturprüfung dieses Jahr ausfallen zu lassen.
Selbst das Internationale Olympische Komitee musste inzwischen das Handtuch werfen und die Spiele dieses Jahr absagen. Dabei dürfte es einem der weltweit korruptesten Vereine besonders schwergefallen sein, auf das viele Geld zu verzichten, das da winkte. Schließlich werden die Funktionäre, die den Beschluss zu fassen hatten, mutmaßlich direkt persönliche Einbußen zu verkraften haben. Aber wir lernen von den Schulministern, dass für die Schulbürokratie gilt, was man normalerweise dem Geschäftsleben zuschreibt: „The show must go on!“ Und so werden, während die Kanzlerin sich in einer Fernsehansprache an die gesamte Bevölkerung wendet und an deren Vernunft appelliert, Sozialkontakte auf das absolut nötige Maß zu beschränken, in Hessen Abiturprüfungen abgehalten, als sei nichts geschehen. Frau Merkel wusste wohl, was sie tat, als sie es nicht bei guten Worten bewenden ließ, sondern ihnen mit einer polizeilich zu kontrollierenden Kontaktsperre auch den nötigen Nachdruck verlieh. Wenn schon in den Institutionen, in denen die Vernunft herangebildet werden soll, augenscheinlich die größtmögliche Ignoranz gegen deren Gebote herrscht und auch kein Protest von Schülern, Eltern und Lehrern aufflammt, was soll man dann vom Rest der Bevölkerung erwarten? Und nachdem Rheinland Pfalz und Hessen schon einmal vorgelegt hatten, haben nun die anderen Schulministerien nachgezogen: Entgegen dem Vorschlag aus Schleswig-Holstein, die Abiturprüfungen dieses Jahr zu suspendieren, finden sie jetzt doch landesweit statt. Vielleicht werden in manchen Ländern die Termine ein wenig verschoben, am besten auf die sowieso vorgesehenen Nachschreibtermine, aber grundsätzlich gilt: „Business as usual!“
Was aber ist an den Abiturprüfungen so bedeutend, dass sie nicht für ein Jahr ausgesetzt oder auch nur in den Herbst verlegt werden können? Was rechtfertigt es, während einer Pandemie, der man offenbar nur durch die striktesten Einschränkungen des öffentlichen Lebens Herr zu werden können glaubt, sie den lebenswichtigen Funktionen wie der Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems und der allgemeinen Grundversorgung gleichzustellen?
Ich denke: Gar nichts! Ich erlaube mir an dieser Stelle die persönliche Bemerkung, dass ich selbst Lehrer bin und seit 10 Jahren meine Tätigkeit darin besteht, in der gymnasialen Oberstufe zu unterrichten, Schülerinnen und Schüler auf das Abitur vorzubereiten und die entsprechenden Prüfungen abzunehmen. Und ich werde im Folgenden versuchen, meine Haltung zu der Frage auf der Basis meiner Erfahrungen in meinem Fach Deutsch zu begründen. Kollegen und Kolleginnen aus anderen Fächern seien explizit dazu aufgerufen, ihre Sicht der Dinge darzulegen.
Zum besseren Verständnis für alle, die kein Abitur gemacht haben oder es nicht in der heutigen Form abgelegt haben, muss man wohl erklären, dass die eigentlichen Abiturprüfungen inzwischen nur noch den End- und Höhepunkt einer zweijährigen Qualifikationsphase darstellen, in der in ihrer Gesamtheit die sogenannte Hochschulzugangsberechtigung erworben wird. Dementsprechend setzen sich die Noten auf dem Abiturzeugnis zu einem guten Teil aus den Vornoten in der Qualifikationsphase und den Ergebnissen der eigentlichen Abiturprüfungen zusammen. Das bedeutet zugleich, dass die Schülerinnen und Schüler in der Phase bis zur Abiturprüfung bereits in den jeweiligen Fächern etwa 6 oder 7 ganz ähnliche Klausuren geschrieben haben wie dann in der Abiturprüfung selbst. Man könnte also in der gegebenen Ausnahmesituation problemlos die Hochschulzugangsberechtigung auch auf der Grundlage der Vornoten vergeben. Vielleicht wäre es überhaupt sachlich angemessener, das Abitur ganz und gar auf Basis eines mehrjährigen Bildungsganges zu verleihen, statt weiterhin besonders gewichtete Abschlussprüfungen zu zelebrieren.
Aber vielleicht ist auch genau das der Grund, weshalb sich die Schulminister so krampfhaft am einmal vorgegebenen Programm festklammern, dass die Krise nicht nur die routinierten Abläufe stört, sondern auch Zeit und Raum gibt, über sie nachzudenken und sie gegebenenfalls in Frage zu stellen. Gerät aber erstmal das Abitur, die Prüfung aller Prüfungen, die heilige Kuh des deutschen Bildungswesens, ins Wanken, dann könnte das womöglich Auswirkungen auf das gesamte Prüfungs- und Benotungsunwesen haben – und damit auf den Kernbestand des existierenden Schulsystems. Denn auf dem Dogma der Vergleichbarkeit der individuellen Leistungen, die nur durch Prüfungen als solche, durch gleiche oder gleichwertige Prüfungsanforderungen und -bedingungen sowie ihre Messung durch Noten zu gewährleisten sei, baut es auf.
Auch in der derzeitigen Situation wird die Vergleichbarkeit ins diskursive Feld geführt. Kann man einem Jahrgang gestatten, an den Hochschulen zu studieren, der keine Abschlussprüfung abgelegt hat? Wäre das nicht ungerecht gegenüber allen vorherigen und nachfolgenden Jahrgängen? Vor allem jedoch: Sind die Noten innerhalb des Jahrgangs überhaupt vergleichbar, wenn sie nicht in zentralen Prüfungen bestätigt und gewissermaßen objektiviert wurden? Dabei wird die Sache mit der Vergleichbarkeit schon zweifelhaft, wenn man bedenkt, dass in der föderalen Bundesrepublik auch unter den Bedingungen des Zentralabiturs, das ja dafür sorgen soll, dass alle tatsächlich die gleichen Aufgaben bekommen, immer noch 16 verschiedene Abiturprüfungen unter 16 verschiedenen Vorgaben zum Prüfungsstoff geschrieben werden. Aber solche Bedenken wird man mit dem Verweis auf Bildungsstandards, die Vergleichbarkeit garantieren sollen und darauf, dass Vergleichbarkeit ja nicht heiße, dass die gleichen Prüfungen abgelegt werden müssen, zurückweisen – auch wenn man sich dann fragen mag, wozu die Zentralprüfungen überhaupt eingeführt wurden.
Und dennoch, selbst wenn man bei den Anforderungen Vergleichbarkeit unterstellt, zeigt sich spätestens bei der Bewertung der Ergebnisse, dass es sich dabei um ein Phantasma handelt – und zwar nicht aus dem banalen Grund, weil jeder Lehrer etwas anders korrigiert. Angenommen ein Kurs schreibt eine Deutschklausur, eine Analyse eines literarischen Textes. Bei der Korrektur zeigt sich, dass der eine Schüler noch Schwierigkeiten mit der Grammatik hat, ein anderer hadert mit dem Ausdruck und der Orthographie, ein dritter hat den Text nicht genau genug gelesen und ihm unterlaufen inhaltliche Fehler, der vierte bleibt schließlich bei der Interpretation oberflächlich. Was sollte daran vergleichbar oder gar gleich sein. Und doch kann es gut sein, dass alle vier je nach Häufigkeit und Schwere der Mängel am Ende die gleiche Note bekommen. Alle haben – im selben Fach, mit demselben Text und derselben Aufgabenstellung – qualitativ ganz verschiedene Leistungen erbracht bzw. Schwächen gezeigt und werden trotzdem bei der Benotung über einen Leisten geschlagen. Man verstehe mich nicht falsch! Ich behaupte nicht, dass es Lehrern nicht möglich sei, die Texte, die da geschrieben werden, fachlich und sachlich zu beurteilen und den Schülern und Schülerinnen eine qualitative Rückmeldung zu geben. Das Problem entsteht erst dort, wo daraus eine messbare, in Noten ausdrückbare Bewertung abgeleitet wird, um den Vergleich der Schülerleistungen zu ermöglichen. Denn mit der Notengebung sollen die Lehrer das Wunder vollbringen, Inkommensurables kommensurabel zu machen. Die Noten sind das Geld der Schule.
Und weil die Vergleichbarkeit keine sachliche Grundlage hat, hat sie auch keinerlei pädagogischen Wert. Dementsprechend ist, Prüfungen zu bestehen, kein mögliches Bildungsziel, sondern ein Instrument der Sozialisation. Schulabschlüsse in dieser Form zum absoluten Kriterium der Schule zu stilisieren, erstickt alle Bildungsanstrengungen von Lehrern und Schülern bereits im Keim. Das festzustellen, genügt schon, das Verhalten der Schüler und Schülerinnen zu studieren, wenn sie im Normalbetrieb ihre Klausuren zurückerhalten. Sicher schauen sie in dem Moment mal kurz drüber, vor allem, wenn sie glauben, die Note sei zu schlecht –, aber von wirklichem Interesse für sie ist einzig und allein die Note. Wer will es ihnen auch verübeln, schließlich ist sie es, die am Ende zählt. Die sachlichen Anmerkungen hingegen werden kaum zur Kenntnis genommen und so macht wohl fast jeder Lehrer die traurige Erfahrung, dass er immer wieder die gleichen Fehler korrigieren darf, weil die Prüfung selbst keinerlei Lerneffekt hervorbringt.
Die Forderung nach Vergleichbarkeit hat aber vor allem Auswirkungen auf die Form der Leistungsfeststellung durch Prüfungen, die einer genaueren Betrachtung wert sind – wieder am Beispiel des Faches Deutsch. Da werden die Schülerinnen und Schüler mit Aufgaben konfrontiert, für die es einen möglichst exakten Erwartungshorizont geben sollte, was schon eine Vorentscheidung für Aufgabentypen beinhaltet, bei denen nicht unbedingt Kreativität im Vordergrund steht. Im Fach Deutsch hat das zur Folge, dass die Textformen, die die Schüler und Schülerinnen zum Abitur hin beherrschen sollen, nicht zu-, sondern abnehmen. Gefragt sind nur noch die Analyse und die Erörterung. Am schlimmsten dürfte sich jedoch die vollkommen artifizielle Prüfungssituation auswirken. Denn die Aufgaben sollen in einem geschlossenen Raum unter Aufsicht mit vielleicht 20 Mitschülern und ohne weitere als den zugelassenen Hilfsmitteln, vor allem jedoch in einem fest vorgegebenen Zeitrahmen bearbeitet werden.
Es bedarf schon einer außerordentlichen Abstraktionskraft, sich unter diesen Bedingungen auf einen komplexen literarischen Text zu konzentrieren und etwas Aussagekräftiges dazu aufs Papier zu bringen. Ständig geht jemand aufs Klo, spielt einer mit dem Kuli, scharrt ein anderer nervös mit den Füßen, niesen und husten welche, essen und trinken welche. Man kann sich kaum bewegen, kann nicht aufstehen und herumgehen, nicht im Stehen oder Gehen nachdenken. Ein Sokrates hätte in unserem Schulsystem keine Chance gehabt. Auch sind alle weiteren Hilfsmittel verboten als vielleicht die Lektüre und ein Duden. Im Unterricht hingegen fordere ich meine Schüler und Schülerinnen auf, im Internet zu recherchieren, in eine Bibliothek zu gehen, andere Auffassungen zum Thema zu rezipieren und sich davon inspirieren zu lassen. Gehört es nicht zur Wissenschaftspropädeutik, die die Schulen leisten sollen, dass die Schülerinnen und Schüler sich mit dem Forschungsstand vertraut machen, was sie für richtig halten übernehmen und darauf eigene Überlegungen aufbauen. In der Prüfungssituation werden sie jedoch von all dem abgeschottet. Hier ist gewissermaßen die creatio ex nihilo gefordert bzw. sind sie auf ihr Gedächtnis verwiesen. Darauf dürfte auch die Beständigkeit des Vorurteils beruhen, dass es in der Schule vor allem aufs Lernen von angeblich totem Wissen ankomme, das man in der Klausur wieder aufs Papier kotze.
Besonders einschränkend wirken sich schließlich die festen Zeitvorgaben aus. Jeder Deutschlehrer lernt, wenn er es nicht von alleine weiß, spätestens im Referendariat, dass die Verfertigung eines Textes als ein Prozess begriffen werden muss. Die Deutschdidaktik unterscheidet, stark vereinfachend und schematisierend, 3 Phasen, die man besser als 3 Aspekte oder Momente des Schreibprozesses fassen sollte: 1. Die Planung, 2. das eigentliche Schreiben und 3. die Überarbeitung. In der Prüfung bleibt davon in der Regel nur das Schreiben übrig – weil auch nur dafür Zeit eingerechnet ist. Aber auch noch aus einem anderen Grund. Die Planung ist, soweit sie nötige Vorarbeiten beinhaltet, zumindest teilweise, die Überarbeitung ganz überwiegend ein kollektiver Prozess. Macht man sich, wenn man z.B. ein Gedicht interpretieren will, wie schon angesprochen, zunächst mit dem Kontext und anderen Sichtweisen vertraut, diskutiert mit anderen, was sie dazu denken etc., so ist es für die Überarbeitung des eigenen Textes ganz essentiell, dass andere ihn lesen, korrigieren, beurteilen. Die mittlere Phase, das Schreiben, hingegen ist ein durch und durch individueller Prozess und hat dementsprechend seine ganz individuellen Bedingungen. Auch wenn das heutzutage verpönt ist, aber man sagt, Brecht habe dabei eine Zigarre rauchen müssen, und Hegel sei erst bei einem Glas guten Weines in die passende Schreibstimmung gekommen. Nietzsche soll eine ganze Wissenschaft davon entwickelt haben bis hin zur Bestimmung der dem Denken und Schreiben förderlichen Diät. Und wie jeder seine spezifischen Schreibbedingungen braucht, braucht auch jeder seine Zeit. Ein Text ist fertig, wenn er fertig ist, nicht wenn ihm die vierte Stunde schlägt. Schließlich sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, ihrem Text eine Form zu geben und da ist es ganz entscheidend herauszufinden, wie man einen Gedanken zu einem angemessenen Ende führt. Dabei geht es nicht allein darum, einen abgeschlossenen Text zu produzieren, sondern vielmehr darum, dass die Schülerinnen und Schüler das Selbstbewusstsein davon entwickeln, wann das sachlich der Fall ist – und nicht den Stift weglegen, weil die Klingel schellt.
Das Beispiel des Faches Deutsch zeigt, dass in den Prüfungen in einer Situation künstlicher Isolation gegen Mitschüler und den Austausch mit ihnen wie gegen das tradierte Wissen eine völlig abstrakte individuelle Leistung erbracht werden soll, die gemessen werden kann, um sie dann mit anderen zu vergleichen und so die vermeintlich besten zu ermitteln. Darum gute, oder gar schöne Texte zu produzieren, geht es hingegen nicht. Ich gebe zu, dass ich die Schülerinnen und Schüler bewundere, die das schaffen. Inzwischen gewöhnt, Texte auf ganz andere Weise zu verfassen, zweifle ich sehr, dass ich dazu unter den beschriebenen Bedingungen in der Lage wäre. Und so kommt man zu dem Schluss, dass Prüfungen mitsamt dem dazugehörigen Bewertungssystem ein Schülerverhalten fördern, das all dem diametral entgegengesetzt ist, was idealiter im Unterricht vermittelt werden sollte. Wie die heilige Vergleichbarkeit dient das fetischisierte Prüfungswesen der Sozialisation abstrakter Konkurrenzindividuen, nicht der Bildung von Menschen.
Politiker predigen in Krisensituationen so gerne, in ihnen die Chancen zu erkennen, die sie vielleicht eröffnen. Die Coronakrise, die so harsch den gewohnten Lauf der Dinge unterbricht, ermöglicht wie kaum eine zuvor, eingespielte Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen und zu überdenken, dazu gehört auch, das Prüfungsunwesen auf den Prüfstand zu stellen. Die Gelegenheit sollten alle Beteiligten beim Schopfe packen. Fangen wir bei den diesjährigen Abschlussprüfungen an! Wagen wir das Experiment, ohne sie auszukommen. Ich verwette den sprichwörtlichen Hut darauf, dass die Hochschulen nicht mehr Grund haben werden, sich über diesen Abiturientenjahrgang zu beklagen als über frühere – und Gründe finden, sich zu beschweren, werden sie sowieso immer. Ich fordere deshalb die KMK auf, in dieser Situation nicht die allgemeine Gesundheit durch unnötige Abiturprüfungen zu gefährden, sondern sie in diesem Jahr einfach einmal ausfallen zu lassen. Vielleicht lernen wir daraus ja, dass wir sie gar nicht brauchen und auch die Schulverwaltung könnte sich den immensen Aufwand, den sie jedes Jahr damit treiben muss, sparen. Das wäre doch ein Schritt zur immer geforderten Entbürokratisierung. Aber ich muss zugeben, mein Vertrauen in die Schulbürokratie ist nach einigen Jahren im Schuldienst nicht allzu groß. Deshalb wende ich mich vor allem an die Schülerinnen und Schüler, die Lehrer und die Eltern, sie mögen sich meinem Appell anschließen – denn ich fürchte, ohne Druck wird es nicht gehen.
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