Moderne Führungspersönlichkeit gesucht. Dieter Lenzen gefunden.

Dieter Lenzen, seines Zeichens Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und derzeit Präsident der Universität Hamburg, hat gerade einen Essay mit dem Titel „Bildung statt Bologna“ veröffentlicht und aus diesem Anlass der Zeitschrift des Hochschulverbandes „Forschung und Lehre“ ein Interview gegeben. Der Zufall wollte es, dass mir dieses Interview in die Hände fiel und ich bedaure diesen Zufall. Denn seit diesem Augenblick zweifle ich abwechselnd an meinem Gedächtnis und an dem der sogenannten Öffentlichkeit, und verzweifle daran, woran ich zweifeln soll.

Dieter Lenzen, diesen Namen verbindet meine Erinnerung ganz fest mit einem Stammgast in den berühmtberüchtigten Talkshows von Sabine Christiansen. Und dieser, von deren Redaktion zum Bildungsexperten erkorene Dieter Lenzen vertrat dort wortreich die neoliberale Wende in Sachen Bildung und warb engagiert für all die Veränderungen des Bildungssystems, die wir in der letzten Jahren erleben mussten und unter solchen Stichworten wie Ökonomisierung des Bildungsbereichs, Bologna-Reform, Kompetenzorientierung, Ausrichtung des Hochschulstudiums auf die zukünftige Berufstätigkeit oder Exzellenzinitiative kennen. Aber ich muss zugeben, meine Erinnerung ist blass. Am deutlichsten sind mir noch die Vehemenz und die Eindringlichkeit, mit der da mit allen verfügbaren neoliberalen Phrasen auf das Millionenpublikum an den Fernsehern eingedroschen wurde. Sie vermittelten den Eindruck von geradezu militanter Überzeugung von den Segnungen solcher Reformen des Bildungswesens. Ansonsten hat mein Gedächtnis diesen Dieter Lenzen als Propagandisten des Neoliberalismus eher verschlagwortet. Was da genau und im einzelnen vertreten und legitimiert wurde und wie dies geschah, das wüsste ich nicht mehr zu sagen. Das könnte daran liegen, dass die Positionen und Argumente, die dort vorgebracht wurden, sich in nichts von dem unterschieden, was uns nun seit Jahren von Politik, Presse und Medien eingetrichtert wird. Da wird es schon schwierig, bestimmte Äußerungen noch bestimmten Personen zuzuordnen. Mit einem Wort: Meine Erinnerung an den Fernsehlenzen ist eher die an einen Typus denn an eine Person.

Nachdem ich nun das Interview mit dem Hamburger Universitätspräsidenten gelesen habe, den ich vielleicht fälschlicherweise für eben den Dieter Lenzen hielt, den ich aus den Talkshows zu kennen glaubte, ist mir noch das letzte Bisschen Vertrauen in mein Erinnerungsvermögen geschwunden. Vielleicht spielt ja meine Phantasie meinem Gedächtnis einen Streich und ich habe mir den Typus eines Vorzeigebildungsneoliberalen zusammengesponnen und zu einer realen Person gemacht. Denn der Interviewpartner Dieter Lenzen betont, wie intransparent und undemokratisch der gesamte Reformprozess, angestoßen von und durchgeführt unter der Ägide ökonomischer Institutionen, verlaufen sei. Er hält die Bologna-Reform für dahingehend verfehlt, dass damit den europäischen Universitäten das angelsächsische Modell übergestülpt würde, obwohl es weder zu ihren Traditionen, noch zur europäischen Bildungslandschaft insgesamt passe. Er steht ein für ein der Wissenschaft verpflichtetes Studium, in dem die Studierenden durch Forschen lernen sollen und kritisiert seine Verwandlung in eine wissenschaftliche Berufsausbildung. Dabei beruft er sich gar auf den Humboldtschen Bildungsbegriff, und als sei das noch nicht genug, nennt er, wohl zum Beweis seiner Radikalität, auch noch Max Horkheimer als Gewährsmann. Die Einrichtung von Exzellenzuniversitäten, an denen ein Anteil der Studierenden konzentriert werden soll, die dann dort tatsächlich noch Wissenschaft betreiben dürfen, geißelt er besonders scharf, als ethisch und sozial nicht zu rechtfertigen, da so der allgemeine Anspruch auf Bildung durch Wissenschaft unterlaufen werde.

Alle diese Äußerungen wirken, hält man sie gegen meine Erinnerungen, recht überraschend und irritierend. Aber Dieter Lenzen wäre nicht der erste, der sich vom Saulus zum Paulus, oder umgekehrt, je nachdem, wie man es sehen möchte, gewandelt hätte. Doch leider versperren sowohl Dieter Lenzen, als auch die Redakteure der Zeitschrift „Forschung und Lehre“ diesen einfachen Lösungsweg für mein Gedächtnisproblem in demselben Interview. Denn da wird Herr Lenzen explizit gefragt: „Wissenschaftler, die nicht mehr über ihre Geschicke selbst bestimmen können, Studierende, die an die Hand genommen werden sollten: Wie ist es zu diesem Vertrauensverlust, dieser Bevormundung in den Universitäten am Anfang des 21. Jh. gekommen?“ Und Dieter Lenzen antwortet: „Diese Frage wird zahlreiche historische Untersuchungen in Anspruch nehmen, deren Autoren über ein erhebliches kriminalistisches Geschick verfügen müssen. Denn in der Tat stellt sich die Frage, durch welche Mechanismen die Einäugigkeit insbesondere der Politiker am Beginn des Bologna-Prozesses zustande gekommen ist. […] Es ist zu hoffen, dass die Rekonstruktion noch so rechtzeitig stattfinden wird, dass die Entscheider nach ihren Gründen und nach ihrer Rechtfertigung gefragt werden können. Das ist Geschichtsbetrachtung. Gegenwärtig aber wird es unsere Pflicht sein, die Folgen des Prozesses so abzufangen, dass unterhalb dessen noch etwas möglich ist, das eine Ähnlichkeit mit dem kontinental-europäischen Verständnis von Wissenschaft, Hochschule und Forschung hat.“ (Forschung und Lehre, hrsg. vom Deutschen Hochschulverband, 21. Jahrgang, Heft 7/14, S. 539)

Wenn es stimmte, dass der Fernsehlenzen und der Interviewlenzen ein und diesselbe Person wären, wie könnte man sich dann diese Antwort erklären? Wer litte in diesem Fall unter Gedächtnisverlust? Er oder ich? Wer sollte für eine historische Untersuchung befragt werden, wenn nicht solche Leute wie er? Zählte der damalige Präsident der FU Berlin nicht zum Kreis wenn nicht der Entscheider, so doch zu dem der Entscheidungsträger, und der Talkshowgast nicht zu dem der Entscheidungslegitimierer? Bräuchten die Untersuchenden deshalb erhebliches kriminalistisches Geschick, weil schon er nicht bereit oder in der Lage dazu wäre, Auskunft zu geben? Ließe sich sein Verhalten noch als Opportunismus bezeichnen, oder müsste man angesichts der Selbstsicherheit mit der die Antwort vorgetragen wird, auf eine außerordentlich gelungene Verdrängungsleistung schließen? Könnte, sollte und dürfte er dann weiter andere Menschen bilden und ein wichtiges Amt im Bildungswesen begleiten? Wäre schließlich eine solche Person noch eine Person? Könnte sie es sein, ohne irgendwie darauf zu reflektieren, dass sie noch vor wenigen Jahren eben zu denen gehörte, über deren Einäugigkeit sie sich nun verwundert? Oder bliebe ein solcher Dieter Lenzen, in dessen Brust zwei oder gar mehr Herzen schlügen, sich doch treu, zwar nicht als Person, so doch als Typus? Nämlich eines Typus von Professors, der sich eilfertig nicht nur dem jeweiligen politischen Mainstream unterwürfe oder sich in ihn einordnete, sondern ihn sich zu eigen machte, geradezu in ihm aufginge und jeden Unsinn, der von oben kommt, mit Vevre vorantriebe. Wäre ein solcher Professor nicht ein Modell eben jenes Arbeitskraftunternehmers, den sich die neoliberalen Humankapitaltheoretiker so sehr wünschen, in seinem, dem Bildungsbereich? Schlösse sich damit nicht der Kreis zu seiner Vergangenheit, wenn nicht zu einer individuellen, so doch zu einer kollektiven? Ohne die Bereitwilligkeit eines erklecklichen Anteils der beamteten „intellektuellen Elite“ dieses Landes und der Gleichgültigkeit oder der Unfähigkeit des Restes, Widerstand zu organisieren, wäre die hektische Durchsetzung all der genannten Neuerungen jedenfalls kaum denkbar, und unser Modellprofessor müsste sich angesichts des Scherbenhaufens, den sie mitproduzierte, nicht derart selbst verleugnen.

Noch überraschender als das Verhalten des Interviewten ist jedoch das der Interviewer. Denn sie fahren mit dem Interview fort, als hätten sie nicht eine Antwort erhalten, die zumindest eine Nachfrage provozierte. Eine Redaktion eines Wissenschafts- und Hochschulmagazins, herausgegeben vom Hochschulverband, sollte doch ihre Pappenheimer kennen. Und wenn nicht, gehörte es zum journalistischen Handwerk, sich über die Biographie eines Interviewpartners und sein Wirken im Vorhinein zu informieren. Wie könnte es also sein, dass man den angesehenen Professor und auch jetzt noch verantwortlichen Hochschulpräsidenten nicht nach seiner eigenen Rolle in dem von ihm so heftig kritisierten Prozess befragte, wäre er tatsächlich mit jenem Talkshowlenzen meiner Erinnerung identisch.

Wenn alle Beteiligten in so trauter Einigkeit über die Vergangenheit schweigen, dann muss wohl doch ich mich irren. Nun ließe sich sicher leicht überprüfen, wer hier unter partieller, gewissermaßen selektiver Amnesie leidet. Ich müsste nur ein wenig in den Archiven wühlen. Würde ich fündig, könnte ich einen hübschen Artikel für „Forschung und Lehre“ schreiben, in dem ich Herrn Lenzens heutigen Äußerungen nur die dazu passenden früheren zur Seite stellen würde. Aber ehrlich gesagt, ist er mir die Mühe nicht wert, auch wenn sich dabei so etwas wie eine Typologie des modernen Führungspersonals ergeben könnte, dessen Schlüsselqualifikationen wohl eher den Fähigkeiten eines Chamäleons ähneln als darin bestehen, Verantwortung übernehmen zu können, wie sie selbst gerne behaupten. Aber das kennen wir auch schon aus der letzten Finanzkrise, als alle, die sie in verantwortlichen Positionen mitproduzierten und vorher an den Blasen gutes Geld verdienten, sich ganz überrascht darüber zeigten, dass es so weit hat kommen können. Ich meide aber vor allem den Gang ins Archiv, weil ich um meine psychische Gesundheit fürchte. Mit einer gedächtnislosen Welt macht man am besten seinen Frieden, indem man sich selbst der Amnesie anheimgibt. Vielleicht kann auf die Art auch aus mir noch eine Führungspersönlichkeit werden.

Oblomov

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