Corona in Schulen

Der Lockdown light, wie man neudeutsch nennt, was Bundes- und Landesregierungen an Maßnahmen ergriffen haben, um die weitere Ausbreitung des Coronavirus in den Griff zu kriegen, hat dazu geführt, dass die Zahl der Ansteckungen auf hohem Niveau stagniert. Wie die politisch Verantwortlichen selbst betonen, reicht das aber nicht aus. Denn die Kliniken nähern sich ihren Kapazitätsgrenzen und die Todeszahlen steigen und haben inzwischen Rekordwerte erreicht. Wer jetzt von den sogenannten Führungspersönlichkeiten nicht alles tut, die Infektionszahlen auch drastisch zu senken, wer weitere Maßnahmen verzögert oder gar blockiert, der macht sich mitverantwortlich dafür, dass Menschen sterben. Das muss einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden. Vielleicht wachen dann wenigstens ein paar von denen auf, die meinen, man könnte noch abwarten, bis ein Wunder oder eine Impfung sie davon erlöst, etwas unternehmen zu müssen.

Nun sind allerdings bereits durch den ungenügenden Lockdown light viele Möglichkeiten, Kontakte zu beschränken, ausgeschöpft. Was ihn noch wesentlich von der „harten“ Variante im Frühjahr unterscheidet, ist, dass das Wirtschaftsleben noch weniger eingeschränkt ist als damals und vor allem, dass Kitas und Schulen auf „Biegen und Brechen“ offen gehalten werden, wie es der Vorsitzende des Lehrerverbandes vor kurzem formulierte.

Da jedoch, wie Ministerpräsident Söder zu Recht bemerkte, die Erfahrungen nicht nur aus dem Frühjahr, sondern auch aus anderen Ländern zeigen, dass härtere Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung durchaus geeignet sind, die Infektionszahlen zu senken, ist es an der Zeit, auch flächendeckende Schulschließungen wieder ernsthaft zu diskutieren. Schließlich kann sich jeder an seinen fünf Fingern ausrechnen, dass bei gleichbleibend hohen Zahlen sich das Infektionsgeschehen auch in die Schulen verlagert und sie als Orte, an denen derzeit noch die wohl meisten Kontakte unter zumeist völlig unzureichenden Hygienebedingungen stattfinden, sich mit der Zeit zu Hotspots entwickeln müssen. Da hilft es auch nicht die xte Studie in Auftrag zu geben, die belegen soll, dass Kinder angeblich nicht so infektiös seien, oder zum yten Male hervorzuheben, dass Schulen bisher noch nicht als besondere Infektionsherde aufgefallen seien. Die Schulen stehen nicht in einem Paralleluniversum und deshalb sind solche isolierende Betrachtungen in einem Umfeld allgemein starker Verbreitung des Virus reichlich weltfremd.

Und so fragt man sich, warum das Wohl und Wehe der Republik daran hängen soll, dass flächendeckende Schulschließungen unbedingt vermieden werden? Die stereotyp wiederholte Behauptung, es gehe um die Bildung der Schülerinnen und Schüler, die allzu sehr darunter leiden würde, wenn über einige Wochen der Unterricht stark reduziert oder ganz ausfallen würde, dass sie gar ihrer Chancen und ihrer Zukunft beraubt würden, ist nachgerade lächerlich. Nicht selten wird sie von Politikern vorgebracht, die es noch vor wenigen Jahren für absolut notwendig erachteten, zum Zwecke der Effizienzsteigerung den Kindern gleich ein ganzes Schuljahr zu stehlen und die Gymnasialzeit dementsprechend zu verkürzen. Aber selbst wenn dem so wäre, dass ein paar Wochen oder gar Monate Unterrichtsausfall solch katastrophale Folgen für die Bildung und Ausbildung der nächsten Generation hätten, wie gerne suggeriert wird – und woran nur glauben kann, wer seine eigene Schulzeit vollständig verdrängt hat –, stünde doch nichts dem entgegen, den Unterricht nachzuholen und die Schulzeit insgesamt einfach ein wenig zu verlängern.

Dem tatsächlichen Grund für die Tabuisierung von flächendeckenden Schulschließungen kommt man demgegenüber schon näher, wenn man in Betracht zieht, dass derzeit die Betreuungseinrichtung Schule von größerer Bedeutung ist als die Bildungsinstitution. So viel hat uns Corona wenigstens an Ehrlichkeit gebracht, dass Politiker inzwischen ganz unverhohlen zugeben, dass eine, wenn nicht gar die wesentliche Aufgabe der Schulen darin besteht, sich um die Kinder zu kümmern, damit die Eltern arbeiten gehen können. Auch diese Argumentation verwundert, wenn man bedenkt, dass sie oft von Verteidigern des traditionellen Familienmodells vorgetragen wird, die nun voll des Verständnisses dafür sind, dass es unzumutbar ist, dass die Kinder einige Zeit zu Hause im Schoße der Familie verbringen. Aber auch viele Eltern, die sonst stets hervorheben, wie wichtig es ihnen wäre, mehr Zeit für ihren Nachwuchs zu haben, beklagen sich, wenn sich ihnen nun die Gelegenheit dazu bietet, eher über die Belastung, die die lieben Kleinen verursachen.

Aber bei aller Heuchelei, die dabei im Spiele ist, stellt der Wegfall der schulischen Betreuung für die Eltern, die arbeiten müssen, im Gegensatz zum temporären Unterrichtsausfall für ihre Kinder ein ernstes Problem dar. Die sowieso schon hohe Belastung für Familien und Alleinerziehende wächst deutlich und sie wissen nun gar nicht mehr, wie sie noch Familie und Beruf vereinbaren sollen. Es wäre aber auch hier durchaus möglich, Hilfe wenn nicht Abhilfe zu schaffen. Man könnte sie einfach beruflich entlasten. Aber dann würde ja die arme Wirtschaft leiden und es ist doch gerade der eigentliche Zweck der Angelegenheit, die möglichst weitgehend am Laufen zu halten. Aber auch, wenn man von der anderen Seite an das Problem herangeht, sind Lösungen denkbar. Denn nur für die Jüngeren müssten anerkanntermaßen Betreuungsangebote bereitgestellt werden. Im Gespräch sind da immer nur die Kinder und Jugendlichen bis zur 7. Klasse. Würden alle Schulen und Lehrkräfte für eine gewisse Zeit dazu eingesetzt, nur noch etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler zu betreuen, könnte das Kontaktgeschehen deutlich reduziert und auch an den vielen schlecht ausgestatteten Schulen die Hygienekonzepte angemessen umgesetzt werden.

Man muss also flächendeckende Schulschließungen keinesfalls derart perhorreszieren, wie es immer noch geschieht. Das sture Festhalten am Präsenzunterricht ist deshalb vielleicht weniger sachlichen Erwägungen als vielmehr der Einfallslosigkeit und Unbeweglichkeit der Schulbürokratie, vor allem jedoch ihrer völligen Unfähigkeit geschuldet, die in Jahrzehnten kaputtgesparten Schulen in der gegebenen Situation angemessen zu unterstützen. Als wenn auch sicher nicht repräsentatives Beispiel gebe ich mal einen kurzen Lagebericht aus meiner Schule, einem Weiterbildungskolleg in NRW, also einer Einrichtung des zweiten Bildungsweges, an der Erwachsene einen höheren Schulabschluss erlangen können. Ein Hygienekonzept gibt es selbstverständlich. Seit Corona sind auch die Seifenspender an den Waschbecken endlich regelmäßig gefüllt und man findet sogar Papiertücher zum Abtrocknen – eine deutliche Verbesserung zum Normalbetrieb. Desinfektionsmittel wurden auch bereitgestellt, gehen aber schon wieder zur Neige. Seit ein bis zwei Wochen kann man auch fast alle Fenster richtig öffnen, um, wie verlangt, durchzulüften, die ganzen Monate zuvor konnte man trotz Corona die meisten von Ihnen nur kippen. Geräte zum Luftaustausch? Davon habe ich schon gehört, sogar welche gesehen – im Fernsehen. Aber dafür habe ich FFP2-Masken bekommen, eine nach den Sommerferien und eine nach den Herbstferien. Das war‘s! So angelegentlich kümmert sich mein Dienstherr um meine Gesundheit.

Vor allem aber hat sich seit Ausbruch der Coronakrise – wie schon in den Jahren zuvor – an der technischen Ausstattung unserer Schule nichts getan. Digitalisierung? Fehlanzeige! Keine (neuen) Geräte, weder für die Schule, noch für die Lehrerinnen und Lehrer, noch für die Schülerinnen und Schüler. Von einem WLAN können wir – seit Jahren – nur träumen. Vor zwei Wochen sollte ich von der Schule aus eine Videokonferenz mit meinen Kursen abhalten. Leider unmöglich, ständig ist die Verbindung zusammengebrochen. Seitdem mache ich das von zu Hause, da geht es. Alle Verbesserungen in diesem Bereich haben wir ausschließlich dem Engagement von Kolleginnen und Kollegen zu verdanken, die sich in der Arbeit aufreiben, trotz völlig unzulänglicher Ausstattung Online-Unterricht zu ermöglichen. Da liegt die Vermutung nahe, dass das ganze Gerede von der Bedeutung von sozialen Kontakten und dem Wert des Präsenzunterrichts in erster Linie kaschieren soll, was man auch in den Ministerien weiß, auch wenn geflissentlich das Gegenteil kolportiert wird, nämlich dass, den Unterricht wenigstens teilweise ins Netz zu verlagern, zur Zeit schon technisch kaum möglich ist, weil die Schulen auch nach 8 Monaten Corona weder darauf vorbereitet sind, noch dabei unterstützt werden.

Wenn es aber nur darum ginge, dass man die Schulen von Seiten der Verwaltung sträflich im Stich lässt! Daran sind wir schließlich schon gewöhnt. Aber die Entscheidung im Lockdown die Schulen trotz Gefährdung für Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern und Verwandten, sowie Lehrerinnen und Lehrer offen zu halten, setzt sie zusätzlich unter immensen Druck. Denn damit werden alle Probleme, die sich allgemein aus der Ausbreitung des Virus ergeben, an die einzelnen Schulen bis hin zu einzelnen Kursen delegiert. Sie werden gewissermaßen „individualisiert“ und so verschärft, weil nun die Lage völlig unübersichtlich und insgesamt unbeherrschbar wird. Beim ersten Lockdown im Frühjahr mit seinen flächendeckenden Schulschließungen mussten die Schulverwaltungen in den Ländern noch selbst reagieren. Prüfungen mussten verschoben, ihre Modalitäten verändert werden, zu schreibende Klausuren wurden gestrichen, das Pensum angepasst, der Unterrichtsausfall war angeordnet, mithin übersehbar und Kompensationen allgemein planbar. Das eröffnete sogar die Möglichkeit, endlich über völlig festgefahrene Strukturen und die Sinnhaftigkeit der bestehenden Normalität auch in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Man erinnere sich nur an die Debatte darum, ob die Abiturprüfungen nötig und noch zeitgemäß seien.

Im 2. Lockdown gibt es kein allgemeines Vorgehen mehr, obwohl die Schulen nun weit stärker vom Infektionsgeschehen betroffen sind. Da infizieren sich einzelne, daraufhin müssen Klassen oder Kurse in Quarantäne geschickt werden, und wenn sich die Fälle häufen, wird die ganze Schule für eine gewisse Zeit geschlossen. Oder anders gesagt: Die Schließung wird nicht mehr für alle verordnet, sondern es wird dem Zufall der Ausbreitung überlassen, wann, wo, was geschlossen wird. An jeder Schule ist die Situation jetzt eine andere. Allen gemein ist jedoch, dass sich der Unterrichtsausfall allenthalben anhäuft, nur eben überall in anderer Quantität und Qualität. Und nun muss jede Schule und jede Lehrkraft selbst sehen, wie sie damit zurechtkommt. Die Ministerien haben jedenfalls nicht mehr – wie noch im Frühjahr – nötig, ihre administrativen Vorgaben zu überarbeiten. Sie machen sich, wie man so sagt, einen schlanken Fuß. Mitten auf dem Höhepunkt der Pandemie sind sie längst zur angeblichen Normalität zurückgekehrt. Den Schulen überlassen sie es, die Quadratur des Kreises zu vollbringen und unter Coronabedingungen den Schulbetrieb zu garantieren, der vor Corona herrschte.

Damit soll gar nicht in Abrede gestellt sein, dass die berühmten Lösungen vor Ort besser sein können als allgemeinverbindliche Regelungen, aber dann muss man vor Ort auch die entsprechenden Entscheidungen treffen können. Das ist aber das Letzte, was die streng hierarchische Schuladministration zulassen möchte. Das Letzte, was wir vor Ort aber möchten, ist, in ein Prokrustesbett abstrakter Regelungen eingespannt zu werden, von denen auch in den Ministerien niemand zu sagen weiß, wie sie unter den derzeitigen Bedingungen einzuhalten sind. Vielleicht sollten sich Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte angesichts des ministeriellen Zynismus mal an den französischen Kollegen und Kolleginnen orientieren und auf die Straße gehen. Das wären endlich mal sinnvolle Coronademonstrationen.

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